Editorial

Bürokratiemonster
oder sinnvolle Sache?

(20.04.2023) Auch Wissenschaftler müssen demnächst vielleicht ihre Arbeitszeiten erfassen. Was ungewöhnlich klingt, könnte sich jedoch lohnen.
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Das Ende der Wissenschaft in Deutschland ist nahe, orakelten kürzlich Ralf Poscher vom Freiburger MPI zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht und Andreas Voßkuhle, ehemals Präsident des Bundes­verfassungs­gerichts in der FAZ. Forschern werde zukünftig der Zugang zu Laboren, Bibliotheken und Büros verwehrt. Schlimmer noch, die Wissenschafts­freiheit sei in Gefahr. Es drohe das Diktat der Stechuhr. „Die Bürokratisierung der Forschung erringt ihren letzten Sieg: Gulliver liegt nun gefesselt am Boden.“

Was hat die beiden Professoren dazu gebracht, solch sinistere Zukunfts­szenarien für den Wissenschafts­standort Deutschland zu skizzieren? Es geht um die Arbeitszeiterfassung. Bereits 2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass auch Arbeitgeber in Deutschland dazu verpflichtet sind, ihren Arbeitnehmern ein System zur Verfügung zu stellen, mit dem sie ihre täglich geleistete Arbeitszeit erfassen und dokumentieren können. Deutschland hat sich mit der Umsetzung etwas Zeit gelassen. Nun, gibt’s jedoch keine Ausreden mehr. Die Arbeitszeit­erfassung muss und wird mit in das Arbeitszeit­gesetz aufgenommen. Das bekräftigte auch im letzten Jahr noch einmal das Bundes­arbeitsgericht in Erfurt. Bislang war der Arbeitgeber nur zur „Aufzeichnung der werktäglichen Arbeitszeit über acht Stunden sowie der gesamten Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen“ verpflichtet.

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Die Stechuhr bleibt still

Die neue Regelung zur Arbeitszeit­erfassung nimmt bislang auch Wissenschaftler nicht aus, worüber sich Poscher und Voßkuhle in ihrem Meinungsbeitrag wortgewaltig empörten. Wobei, so ganz stimmt das nicht, denn Professoren und Professorinnen sind laut GEW ausgenommen – egal ob verbeamtet oder angestellt. Sie haben eine leitende Funktion, sind also Chefs. Und für Chefs gilt die Pflicht natürlich nicht. Wie die Süddeutsche kürzlich berichtete, enthält der neueste Gesetzentwurf einige Ausnahmeregelungungen, die auch auf Forschungstreibende zutreffen könnten („besondere Merkmale der ausgeübten Tätigkeit“). Ob Postdocs, Doktoranden und Arbeitsgruppenleiter unter diese Ausnahme fallen, ist jedoch noch unklar. Wenn nicht, droht ihnen dann das herauf­beschworene „Diktat der Stechuhr“? Das ist eher unwahrscheinlich.

Schauen wir uns direkt auf der entsprechenden Website des zuständigen Bundes­ministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) um. Dort heißt es etwa: „Für die Aufzeichnung besteht derzeit keine Formvorschrift; sie kann auch handschriftlich erfolgen.“ „Nach Auffassung des BMAS kann der Arbeitgeber die Aufzeichnung so wie bislang auch schon delegieren“. Auch die Vertrauens­arbeitszeit soll weiterhin möglich sein: „Eine Dokumentation der Arbeitszeit steht einer solchen Vereinbarung nicht im Wege.“ Wichtig: auch im Homeoffice oder anderen mobilen Arbeitsorten gelten die Vorgaben des Arbeitszeit­gesetzes über Höchstarbeits- und Ruhezeiten. Aktuell übrigens: nicht mehr als zehn Stunden täglich, nach sechs Stunden ist eine 30-minütige Pause einzulegen. Insgesamt nicht mehr als 48 Stunden Arbeitszeit pro Woche. So steht es im Gesetz.

Wie die Arbeitszeiten erfasst werden, ist jedem Arbeitgeber überlassen. Es soll sich dabei nur um ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ handeln. Also wäre beispielsweise eine App, mit der man sich auch vom Homeoffice aus bequem ein- und ausloggen kann, denkbar und wird auch von einigen Unis wie der Uni Saarland bereits genutzt. Von einer Stechuhr kann also keine Rede sein.

Erstmal abwarten

Aktuell erfasst die Uni Saarland, wie sie uns auf Anfrage mitteilt, jedoch nur die Arbeitszeit der Mitarbeiter und Mitarbei­terinnern der Verwaltung. Dort wurde das digitale Zeitmanagement erst kürzlich modernisiert und soll bis Ende des Jahres auf weiteres Personal in Verwaltung und im technischen Bereich ausgeweitet werden. „Das wissenschaftliche Personal erfasst die Arbeitszeit derzeit nur, wenn dies innerhalb von Projekten, wie vor allem bei EU-Förderprojekten, erforderlich ist.“

Ansonsten wartet man ab. Denn das Bundesarbeits­ministerium hat erst für diesen Herbst Vorschläge für die konkrete Ausgestaltung der Arbeitszeit­erfassung versprochen. Auch die Uni Kiel schaut erwartungsvoll auf Hubertus Heil: „Für die Umsetzung ist es [...] wichtig zu wissen, welche Anforderungen durch das Arbeitszeit­gesetz künftig gestellt werden“, schreibt sie uns in einer E-Mail. Ähnlich verhält es sich auch an der Universität Freiburg: „Sobald der von Seiten der Bundesregierung angekündigte Gesetzes­entwurf zur Arbeitszeit­erfassung vorliegt, wird die Universität Freiburg prüfen, ob ihr Zeiterfassungs­system für Wissenschaftler*innen einer Änderung bedarf und, sollte dies der Fall sein, entsprechende Anpassungen vornehmen. Aktuell wird die Arbeitszeit von Wissenschaftler*innen an der Universität Freiburg entsprechend der derzeit geltenden Gesetzeslage nicht erfasst.“ Auch die Max-Planck-Gesellschaft ist noch unentschieden. Wie sie uns wissen lässt, wird das Thema Arbeitszeit­erfassung derzeit in den Gremien beraten.

Recht auf Zeitbuchhaltung

Wie handhaben andere europäische Universitäten die Arbeitszeit­erfassung? Zuerst ein Blick in das Nicht-EU-Land Schweiz. An der Uni Zürich gilt eine Pflicht zur Erfassung ebenfalls nur für das Verwaltungs- und das technische Personal. Arbeitszeiten und Abwesenheiten sind in einer Arbeitszeit­tabelle einzutragen und dem oder den Vorgesetzten vorzulegen. Für den Mittelbau gilt: Es gibt keine Pflicht, aber ein Recht auf eine persönliche Zeitbuch­haltung. „Sie haben nur dann Anspruch auf ein nicht bezogenes Ferien­guthaben oder die Kompensation eines positiven Arbeitszeit­saldos, wenn sie eine Zeitbuch­haltung führen und diese von der vorgesetzten Person geprüft und visiert wird“, heißt es auf der Uni-Zürich-Website.

An der BOKU Wien sieht es ähnlich aus. Für das wissen­schaftliche Personal ist ein Zeiterfassungs­system bislang nicht verpflichtend realisiert und ist auch in nächster Zeit nicht in Sicht. Eine Ausnahme gibt es jedoch. Forscher, die für ihre Projekte Drittmittel (z. B. EU-Mittel) erhalten, müssen die für das jeweilige Projekt aufgewandten Zeiten verpflichtend in einem elektronischen und revisions­sicheren Erfassungssystem dokumentieren. Das gilt allerdings nicht für Projekte mit Förderung durch den Öster­reichischen Wissenschaftsfonds (FWF), die den dicksten Brocken von Drittmittel­projekten ausmachen.

Überstunden im Blick

Ob Tabelle, Zettel, Chipkarten- oder App-System – ja, Arbeitszeit­erfassung ist wieder ein bisschen mehr Bürokratie. Aber es könnte sich lohnen. „Wir erachten die Dokumentation der geleisteten Arbeitsstunden als sinnvoll“, schreibt uns Lisa Janotta vom Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft auf Anfrage. „Wie unsere Evaluation des WissZeitVG zeigt, leisten wissenschaftlich Beschäftigte in der Regel fächer­übergreifend im Durchschnitt 11,8 Stunden pro Woche bei Teilzeit­beschäftigten und 7,8 Stunden bei Vollzeit­beschäftigten mehr. Grund hierfür ist laut Beschäftigten­angaben, dass die Qualifikations- bzw. Forschungs­arbeit (die ja Bedingung für die Weiter­beschäftigung ist) anders nicht vollbracht werden kann. Der Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN) zählt durchschnittlich sogar 12-13 Überstunden pro Woche. Vor diesem Hintergrund halten wir die Dokumentation der Arbeitszeit für ein geeignetes Mittel, die Überstunden noch besser zu dokumentieren und politisch Druck zu machen, um a) Vollzeit­anstellung voranzubringen und b) entfristete Stellen im Postdoc-Bereich einzurichten.“

Zu hoffen wäre es, dass mit ein paar zusätzlichen Clicks tatsächlich bessere Arbeits­bedingungen und vielleicht sogar bezahlte oder anderweitig kompensierte Überstunden herauskommen. Mit ziemlicher Sicherheit aber steht der Untergang der Wissenschaft, wie von den beiden Professoren proklamiert, nicht unmittelbar vor der Labortür.

Kathleen Gransalke

Bild: Pixabay/lamography


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Letzte Änderungen: 19.04.2023