Editorial

Komplexes vereinfachen

(22.06.2023) Das ist dem iGEM-Team Phactory 2018 mit seiner synthetischen Phagen-Pro­duktion gelungen. Im letzten Jahr entstand daraus das Start-up Invitris.
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Die Planegger Firma synthetisiert die Bakterio­phagen in zellfreien Extrakten. Das ist unkomplizierter, schneller und flexibler als die Standard-Produktion in Bakterien. Kilian Vogele (im Bild), Physiker, CTO und Mitgründer von Invitris, über resistente Bakterien, Phagen-Fabriken und Lego, das sich selbst zusammenbaut.

Herr Vogele, Invitris hat seine Wurzeln in einem studentischen Projekt, das sich Phactory nannte. Das müssen Sie bitte mal näher erklären.
Kilian Vogele: Ich habe zu dem Zeitpunkt im Labor von Friedrich Simmel am Lehrstuhl für die Physik synthetischer Biosysteme der Technischen Universität München promoviert. Wir hatten die Möglichkeit, ein iGEM-Team zu hosten. iGEM steht für International Genetically Engineered Machine. Das ist eine Art Wettbewerb in der synthetischen Biologie, an dem damals 350 Teams teilnahmen. Eines war unseres, Phactory. Gemeinsam mit 16 Studenten habe ich als einer der Betreuer versucht, Phagen synthetisch herzustellen.

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Sie sind aber eigentlich Physiker, oder?
Vogele: Genau, ich habe Physik studiert. Schon während des Studiums fand ich komplexe Systeme spannend. Das Leben und die Biologie haben davon reichlich, so bin ich in diese Richtung gerutscht. Und wenn ein Physiker etwas verstehen möchte, dann versucht er, das Komplexe zu vereinfachen. So kamen wir von der Bakterienzelle zu einem Zellextrakt, der nur genau die Expressions­maschinerie enthält, die nötig ist, um Proteine herzustellen. Den Extrakt haben wir dann nach und nach verbessert. Ja, und irgendwann haben wir versucht, Bakteriophagen zu synthetisieren. Zugegebenermaßen waren wir überrascht, dass es direkt funktioniert hat. All das habe ich während meiner Doktorarbeit angefangen, das war um 2017. Im Jahr 2018 startete Phactory und wir haben rund ein Jahr lang an der Bakteriophagen-Herstellung im zellfreien Extrakt gearbeitet. Auf der Abschluss­veranstaltung in Boston haben wir unsere Daten präsentiert und damit etliche Preise gewonnen. Insgesamt sind wir sogar Zweite geworden.

Also haben Sie entschieden, dass die Idee so gut ist, dass Sie eine Firma gründen?
Vogele: Wir hatten diese Technologie, von der viele Experten begeistert waren, und haben überlegt: Wie bringen wir die Phagen möglichst schnell zum Patienten, als Therapie? Schnell war klar, dass das am besten über ein Start-up geht. Im Jahr 2019 haben wir Patrick Grossmann getroffen, der nicht nur einen PhD in Bioinformatik, sondern ebenso einen MBA [einen Master of Business Administration, Anm. d. Red.] hat. Das unter­nehmerische Denken hatte in unserem rein wissen­schaftlichen Team bislang gefehlt. Gemeinsam haben wir Anträge geschrieben und zum Beispiel eine EXIST-Forschungs­transfer-Förderung bekommen. So kam es zu Invitris. Patrick ist jetzt CEO, ich CTO. Mit Franziska Winzig und Sophie von Schoenberg sind auch ehemalige Phactory-Studentinnen Teil des Teams.

Wie kamen Sie auf den Namen Invitris?
Vogele: Wir machen In-vitro-Expression. Aus in vitro wurde Invitris. Das ist alles.

Sie hätten auch bei Phactory bleiben können, was Sie ja aber auf Phagen beschränkt hätte, zumindest im Namen. Sie haben aber mehr vor?
Vogele: Das stimmt. Wir haben mit Phagen gestartet, einem wirklich komplexen System, für das wir viele unterschiedliche Proteine und DNA benötigen. Das kriegen wir gut hin. Jetzt können wir uns an andere Proteine wagen, zum Beispiel Endolysine, an denen wir auch arbeiten. Außerdem versuchen wir, Antikörper zu synthetisieren.

Als Therapeutikum sind Phagen ja bereits seit einigen Jahrzehnten im Einsatz, vor allem in Osteuropa. Wie funktionieren Phagen?
Vogele: Ein immer größer werdendes Problem in der modernen Medizin ist, dass Antibiotika wirkungsloser werden, weil pathogene Bakterien Resistenzen entwickeln. Gleichzeitig hängt die Entwicklung neuer Antibiotika-Klassen hinterher. Es braucht also dringend Alternativen. Ein vielversprechender Ansatz sind Bakteriophagen, also Viren, die hochspezifisch Bakterien befallen und töten. Die gibt es wirklich überall, auch am und im Menschen. Das ist ein Vorteil, weil das Immunsystem Phagen kennt und Phagen­therapien deshalb verhältnismäßig neben­wirkungs­arm sind. Außerdem infizieren Phagen wirklich nur ihren speziellen Host. Im Gegensatz zu Antibiotika lassen sie deshalb das Mikrobiom intakt.

Ihre Wirtsspezifität ist aber auch gleichzeitig ein großer Nachteil, oder? Schließlich bräuchte ich für jeden Keim einen bestimmten Phagen. Während ich mit Breitband-Antibiotika eine Infektion oft schon unspezifisch und zügig stoppen kann, müsste ich für eine Phagen­therapie erst einmal den Keim identifizieren.
Vogele: Genau. In der klassischen Phagen­therapie verabreicht man Patienten deshalb oft eine Mischung verschiedener Phagen, um ein größeres Wirtsspektrum abzudecken. Und diese Phagen müssen ja auch erst einmal in Bakterien in großen Mengen hergestellt werden. Das ist ebenfalls zeitaufwendig. Mit unserem Zellextrakt haben wir aber ein offenes System, in welchem wir Phagen deutlich schneller herstellen und sie zudem manipulieren können. Wir können ihre Wirtsspezifität zum Beispiel über Veränderungen an der Phagen-DNA anpassen.

Warum kann ich Phagen nicht einfach im großen Maßstab vom Allerwelts-Laborbakterium E. coli exprimieren lassen?
Vogele: Das scheitert an zwei Stellen. Erstens erkennen die Phagen E. coli nicht. Und selbst wenn wir die Bakterien – oder die Phagen – so anpassen würden, dass die Phagen an der Oberfläche binden und so die Bakterien infizieren könnten, bringen die Viren naturgemäß lytische Fracht mit. Denn es ist ja ihr Ziel, Bakterien zu töten. Sie würden auch E. coli zum Platzen bringen. Deshalb ist ein zellfreier Ansatz so elegant. Wir überspringen die Infektion der Bakterien mit den Phagen, geben einfach Phagen-DNA in den Zellextrakt und lassen Virenpartikel produzieren. Auf diese Weise können wir in ein und demselben System unterschiedlichste Phagen synthetisieren.

Der Zellextrakt ist aber ursprünglich aus E. coli. Was ist alles drin?
Vogele: Wir lysieren E.-coli-Zellen, entfernen die Zellmembran, DNA und mRNA sowie einige Metaboliten. Übrig bleibt ein definiertes System. Und wenn wir dann Phagen-DNA, Salze und ein paar Aminosäuren hinzugeben, dann beginnt die Expression. Ein Vorteil ist, dass wir die Synthese mit dem Extrakt beliebig skalieren können, in beide Richtungen. Wir nutzen zum Beispiel Millionen nanoliter­kleiner Tropfen des Extraktes, geben DNA-Bibliotheken hinzu und können so gleichzeitig eine riesige Menge unterschiedlicher Phagen-Varianten herstellen und screenen.

Und im Extrakt findet sich alles korrekt zusammen, also Phagen-DNA, Capsid aus Proteinen und die Spikes zur Bakterienerkennung?
Vogele: Im Prinzip ist der Bauplan komplett vorhanden, es funktioniert alles über Selbst­assemblierung. Das ist ein bisschen so wie Lego, das sich selbst zusammenbaut. [lacht] Wir finden das auch total faszinierend.

Die Fragen stellte Sigrid März

Steckbrief Invitris
Gründung: 2022
Sitz: am Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie (IZB) in Planegg
Mitarbeiter: Sechs in Vollzeit
Produkt: Zellfreies Expressionssystem für Phagen (und anderes)

Bild: Invitris (2)


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Letzte Änderungen: 22.06.2023