Editorial

Forschung im Komparativ

(14.07.2023) Nicht selten liegt die Wissenschaft mit ihren Educated-Guess-Prognosen daneben. Was die späteren „richtigen“ Ergebnisse meist über Gebühr aufwertet.
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„Eine Sache, die lange erwartet wurde, nimmt oft die Form des Unerwarteten an, wenn sie endlich kommt.“ Den Satz notierte Mark Twain einmal in einem seiner zahlreichen Notizbücher – und meinte damit wohl etwa dasselbe wie der Alltags-Spruch „Manchmal kommt es anders, als man denkt“.

So banal dieser Spruch klingt, bekommt er gerade in der Forschung oftmals ein besonderes Gewicht. Denn tatsächlich findet man immer wieder gerade dort, wo man meinte, sowieso schon zu wissen, was herauskommen wird, am Ende doch etwas anderes.

In vielen Forschungsartikeln ist dies bereits durch die Wortwahl dokumentiert. Man blättere etwa nur mal tausend beliebige Studien durch und zähle, wie oft darin die Floskel „... than previously thought“ auftaucht. Oder sinngleiche Begriffe wie „than previously expected / estimated / imagined / recognised / …“ Sie werden feststellen: Auffallend oft! Tatsächlich ist es eine der meist verwendeten Floskeln überhaupt in Forschungsartikeln.

Editorial

Keine skurrilen Einzelfälle

Folglich scheint es durchaus keine Seltenheit zu sein, dass in der Forschung gewisse Dinge am Ende zumindest etwas anders herauskommen, als deren Vertreter es bis dahin gedacht / erwartet / geschätzt / sich ausgemalt / verstanden / ... hatten.

Nehmen wir ein paar Beispiele, damit der Punkt konkreter wird. Da folgerte etwa vor zwei Jahren ein internationales Forschungsteam, dass „die tropischen afrikanischen Bergwälder mehr Kohlenstoff speichern als bisher gedacht“ (Nature 596: 536-42). Kurz zuvor ließen Kollegen aus Österreich und Italien und Wien verlauten: „Tröpfchen mit Coronaviren halten länger als gedacht“ (P.N.A.S. 118 (37) e2105279118). Und eine Gruppe aus dem Berliner Max-Planck-Institut für molekulare Genetik fasste ihre Ergebnisse über die Inaktivierung des X-Chromosoms in weiblichen Säugetieren sogar im doppelten Komparativ zusammen: Die zugrundeliegenden Mechanismen seien „dynamischer und komplexer als gedacht“ (Nat. Commun. 12: 3638).

Natürlich sind diese drei Beispiele bei weitem keine skurrilen Einzelfälle. Wie sehr hatte sich beispielsweise die gesamte Forscherzunft gerade bei unserem eigenen Genom verschätzt. Nicht nur, dass dessen Sequenzierung am Ende viel weniger Gene als bis dahin angenommen offenbarte – nein, auch bei anderen Fragestellungen hatte sie mit ihren Prognosen ziemlich daneben gelegen. So registrierte man etwa in den neuen Datensätzen, dass Mutationen und andere „Umbauten“ im Humangenom viel häufiger vorkommen, als man zuvor gedacht hatte. Oder dass der Anteil an rein regulatorischen Abschnitten im menschlichen Genom doch deutlich größer ist als bislang vermutet. Oder dass die Sequenzdaten entgegen aller Erwartungen über die letzten 5.000 Jahre eine deutliche Beschleunigung der Evolution unseres Genoss offenbarten – mit der Folge, dass sich unser Erbgut gerade in der jüngsten Vergangenheit schneller veränderte als in jeder anderen Periode der menschlichen Evolution. Oder dass im Vergleich mit dem Erbgut anderer Säugetiere die Anzahl abgeschalteter Gene, die in unseren Genomen schlummern, deutlich größer ist, als die Fachleute geahnt hatten – und dass insbesondere der Aktivitätsverlust einiger Gene, die in der Linie unserer Vorfahren seit langem etabliert waren, stärker zur menschlichen Evolution beigetragen hat als bis dahin vermutet.

Tummelplatz falscher Vermutungen

Im Rückblick bleibt also zu konstatieren, dass sich ausgerechnet unser eigenes Genom nach dessen Sequenzierung als wahrer Tummelplatz falscher Vermutungen und Schätzungen entpuppte.

Wie aber kommt es, dass all die vielen Forscher mit dem, was sie im Voraus denken / erwarten / vermuten / annehmen / schätzen / ..., derart häufig so weit neben dem liegen, was die daraufhin ermittelten Daten dann tatsächlich offenbaren?

Klar, liegt einem sofort der ketzerische Spruch auf der Zunge, dass die Forscher doch besser „nach-“ statt so viel „vor-“denken sollten. Aber das trifft es ja nicht wirklich. Natürlich müssen Forscher vorausschauen (und -denken), natürlich müssen sie Daten interpretieren und gewichten, um daraus plausible Szenarien sowie klare Hypothesen und experimentelle Strategien für einen potenziellen künftigen Erkenntnisgewinn zu entwickeln. Und sicher ist dabei ein großer Unsicherheitsfaktor, dass sie für ihre Schätzungen / Erwartungen / Vermutungen / Annahmen / … oftmals auf zu dünne Datensätze zurückgreifen müssen, die zudem oftmals noch mit weniger „starken“ Methoden gewonnen wurden.

Je falscher die Prognose, umso größer die Erkenntnis

Aber wie so oft kann man das Pferd auch anders herum aufzäumen. Man könnte beispielsweise fragen, ob all diese Ergebnisse auch nur annähernd so aufregend und spektakulär daherkommen würden, wenn man zuvor eben nicht derart „danebengedacht“ hätte. Schließlich klingt der Satz „Das Genom ist ganz anders aufgebaut als gedacht“ viel aufregender als ein nüchternes „Wir stellen die Struktur eines Genoms vor“. Oder ist es viel spektakulärer zu verkünden, dass Bakterienmutanten den ausgeschalteten Zuckertransport wieder viel schneller regenerieren als erwartet – statt sachlich zu konstatieren, dass die Bakterien nach einer bestimmten Anzahl von Teilungszyklen den Zucker wieder abbauen können. Oder wirkt es viel alarmierender, wenn es heißt „Mikro-Schlaganfälle sind deutlich häufiger als bislang angenommen“ – statt nur schlicht zu melden: „Durchschnittlich erleidet eine von zehntausend Personen in seinem Leben einen Mikro-Schlaganfall.“

Fragen wir also nochmals allgemeiner: Erregen gewisse Erkenntnisse nur deshalb so viel Aufsehen, weil sich Forschung und Wissenschaft gerade hier zuvor ziemlich verschätzt haben? Man kann den Zusammenhang kaum leugnen. Und damit sind wir an einem durchaus interessanten Punkt angekommen. Denn so objektiv und rein faktenorientiert die Wissenschaft idealerweise agiert, scheint sie dies demnach bei der Bewertung der Erkenntnishöhe ihrer Ergebnisse nicht immer. Denn offenbar hängt die vermeintliche Bedeutung neuer Forschungsergebnisse nicht nur davon ab, wie weit sie rein objektiv den bereits bekannten Erkenntnisstand erweitern – sondern vielleicht sogar noch stärker davon, welche Vermutungen und Abschätzungen man aus dem „alten“ Erkenntnisstand für künftige Ergebnisse abgeleitet hatte. Waren diese Erwartungen richtig und die neuen Ergebnisse bestätigen sie nur, dann wird die Erkenntnishöhe nicht als besonders hoch wahrgenommen. Man hatte es schließlich schon vorher gewusst. Waren die Erwartungen und Annahmen indes rundum falsch, sind die Chancen hoch, dass genau die gleichen Ergebnisse als große Entdeckung gefeiert werden – und am Ende womöglich gerade deshalb einen „Durchbruch“ oder einen „Paradigmenwechsel“ herbeiführen.

Und so schleicht sich am Ende ein durchaus starker subjektiver Faktor in die Bewertung von Forschungsergebnissen mit ein: Denn je stärker sich die Fachwelt mit ihren Prognosen verspekuliert, desto höher steigt die Bedeutungshöhe der „richtigstellenden“ Erkenntnisse.

Ralf Neumann

(Illustration generiert mit DAll-E2)

 

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Letzte Änderungen: 12.07.2023