Editorial

„Man muss nur offen sein für Neues“

(20.07.2023) Die Bio-Start-ups von morgen messen sich jedes Jahr beim Science4Life Venture Cup. Dieses Mal mit dabei: die Mini­­gewebe-Züchter von ArtifiCell.
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Kleines Bild: ArtifiCells 3D-Zellkulturkammer. Das Muskelgewebe ist am elastischen Pfostensystem befestigt.

Der Science4Life Venture Cup ist der bundesweit größte Businessplan-Wettbewerb für die Lebens­wissen­schaften. Wer sich dort durchsetzen kann, hat gute Chancen, auch auf dem Markt erfolgreich zu sein. Seit 1998 wird der Wettbewerb jedes Jahr durchgeführt, ausgerichtet von der unabhängigen Gründungs­initiative Science4Life e. V., die aus einem Netzwerk von Branchen­experten aus mehr als 200 Unternehmen besteht. Neben einem attraktiven Preisgeld winkt den Gewinnern des Wettbewerbs deshalb auch viel immaterieller Gewinn: ein großes Angebot von Beratung und Weiterbildung durch die Science4Life-Mitglieder in Form von Workshops, Business-Coachings und individuellen Medientrainings.

Der Wettbewerb verläuft in drei Runden von der Ideenphase über die Konzeptphase bis zur Businessplan­phase, in der die teilnehmenden Teams schon weit auf dem Weg zur Gründung fortgeschritten sind. In der letzten Wettbewerbs­phase werden jeweils zehn Gewinner ermittelt, wobei ab Platz 6 keine Rangfolge mehr erstellt wird und die Unternehmen ein einheitliches Preisgeld von 1.000 Euro erhalten. Mit Makrophagen 2.0 ist eine Ausgründung mit biomedizinischer Ausrichtung unter den fünf Bestplatzierten. Die Dresdener entwickeln eine Zelltherapie gegen solide Tumoren. Wir stellen sie an dieser Stelle am kommenden Donnerstag vor.

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Noch komplexere Strukturen

Unter den Top Ten findet sich außerdem das Göttinger Start-up-Projekt ArtifiCell, das funktionierendes menschliches Gewebe – sogenanntes Microtissue – züchten möchte. Zellkulturen werden in der biomedizinischen Forschung nicht nur zur Aufklärung der Ursachen und Mechanismen komplexer Erkrankungen genutzt – auch Medikamente werden oft zuerst an ihnen getestet. Diese Vorgehensweise spart Tierversuche, und man erhält oft deutlich schneller und damit früher im Entwicklungs­prozess Anhaltspunkte zur Wirksamkeit und zu Neben­wirkungen von Arzneimittel­kandidaten. Allerdings unterscheiden sich zweidimensionale Kultursysteme in vielen Eigenschaften von natürlichem Gewebe oder Organen, sodass Ergebnisse zwischen diesen Systemen schlecht übertragbar sind. Eine Alternative bieten dreidimen­sionale Kultursysteme, die im besten Fall komplexe Organ-ähnliche Strukturen bilden (siehe dazu auch „Eroberung der dritten Dimension“ auf LJ online und das LJ-Special „3D-Zellkultur und Organoide“ in Heft 04/2023 und online).

ArtifiCell geht aber noch ein Schritt weiter, wie Timo Betz, Professor für Biophysik an der Georg-August-Universität Göttingen und einer der Gründer von ArtifiCell, erklärt: „Unsere funktionalen Microtissues sind im Gegensatz zu 3D-Zellkulturen oder Sphäroiden in der Lage, eine komplexere Gewebestruktur abzubilden und liegen damit in vielerlei Hinsicht näher am menschlichen Organismus. Das ermöglicht uns unter anderem relevante Kenngrößen automatisiert zu messen, bei Herzmuskel­gewebe beispielsweise die kontraktile Kraft oder die Spannung der Gewebe.“

Neben Herzmuskel­zellen kommen derzeit vor allem Skelett­muskel­zellen und Fibroblasten zum Einsatz, die Betz’ Team entweder aus Patienten gewinnt, aus Stammzellen differenziert oder einfach einer etablierten Zelllinie entnimmt. Die Palette an Erkrankungen, die so untersucht werden können, sei extrem lang, wie Betz betont. „Aktuell befassen wir uns neben Herzmuskel­gewebe vor allem mit der genetischen Muskel­erkrankung Duchenne-Muskel­dystrophie.“

Fachgrenzen überschreiten

Am Anfang von ArtifiCell stand Betz’ Interesse für Zell- und Gewebemechanik. „Kurz gesagt versuche ich zu verstehen, wie die Natur physikalische Gesetz­mäßigkeiten nutzt, um die unglaublich breite Verteilung an biologischen Funktionen zu erfüllen“, erklärt der Physiker. „Dabei nutzen biologische Systeme physikalische Konzepte, die wir gerade erst beginnen zu verstehen.“

Weil man zum Verständnis der Vorgänge meist auf Systeme zurückgreift, die gerade nicht mehr reibungslos funktionieren, käme man fast zwangsläufig mit medizinischen Fragestellungen in Kontakt. „Man muss nur offen sein, Neues zu lernen, und sich mit den Kollegen aus der Biologie und Medizin austauschen“, ist Betz überzeugt. Und so ist das Gründungsteam von ArtifiCell multi­disziplinär aufgestellt: Neben Betz ist mit Till Münker ein zweiter Physiker an Bord. Arne Hofemeier – inzwischen aus Betz’ Gruppe an das Institut für Pharmakologie und Toxikologie in der Universitäts­medizin Göttingen gewechselt – ist Biologe, Mattias Luber Daten­wissenschaftler, der „Neuzugang“ in der Gruppe, Bruno Schmelz, Chemiker.

Günstig, skalierbar, automatisierbar

Noch befindet sich ArtifiCell in der Vorgrün­dungsphase; die offizielle Gründung ist für nächstes Jahr angedacht. Die funktionalen Microtissues sollen dann gleichermaßen in der Forschung wie in der Industrie zur Anwendung kommen. Vorteile genug bieten sie, wie Betz zusammenfasst: „Ein zentraler Unterschied zu bestehenden Systemen ist, dass wir dank der hohen Messgenauigkeit mit deutlich weniger Zellmaterial bzw. Verbrauchs­mitteln auskommen und somit günstiger in der Anwendung sind. Der geringe Material­verbrauch, die Skalierbarkeit und vor allem die Automati­sierbarkeit machen unser System besonders für Industrie­anwendungen interessant.“

Wissenschaftler wären dagegen vor allem von einer anderen Tatsache begeistert: „Wir können unsere Gewebe live und während des gesamten Entwicklungs­zyklus in hoher Auflösung mikroskopieren. Das erlaubt auch nichtinvasive Analysen von beispielsweise der subzellulären Gewebestruktur.“ Diese Vielfalt an Vorteilen und Einsatz­möglichkeiten hat offensichtlich auch im Science4Life Venture Cup überzeugt.

Larissa Tetsch

Bild: Science4Life & A. Hofemeier


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Letzte Änderungen: 20.07.2023