Editorial

Die Art, das unbekannte Wesen

(28.07.2023) Seit Charles Darwin tut sich die Biologie schwer mit dem Begriff der Art. Zwar gibt es einige Spezieskonzepte, doch umfassend überzeugen kann keines davon.
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„On the Origin of Species“ – betitelte Darwin bekanntlich sein Schlüsselwerk zur Evolutionstheorie. Doch wusste er überhaupt, worüber er da schrieb? Über Evolution, klar. Den Begriff der „Art“ erklärte er jedoch nicht. 

Warum auch? Schließlich nutzen wir Menschen Spezieskonzepte, seit es uns gibt – ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht. Ganz intuitiv teilen wir die Natur um uns herum in diskrete Gruppen ein. Allein um zu überleben, denn so wussten wir etwa: Nicht nur das eine große Tier mit den Streifen und den spitzen Zähnen will uns fressen, sondern alle anderen, die so aussehen, auch – halten wir uns also lieber fern von Tigern. Oder uns war ebenso klar: Ich kann bedenkenlos alle diese kleinen roten Früchte essen und werde nicht tot umfallen – denn im Gegensatz zu den roten Pilzen mit den weißen Flecken sind Kirschen nicht giftig.

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Was ist mit Selbstbefruchtern?

Umso verwunderlicher daher, dass es Wissenschaftlern bis heute so schwer fällt, zu definieren, was eine Spezies tatsächlich ist. Das akademische Dilemma begann mit der Erkenntnis, dass die reine Ähnlichkeit zweier Organismen viel öfter in die Irre führt, als man dachte. Ein solches typologisches Artkonzept machte etwa keineswegs plausibel, warum die Haushundrassen alle zu einer Art gehören, die vielen tausend Buntbarscharten in den ostafrikanischen Seen dagegen tatsächlich jeweils eine eigene Spezies darstellen. 

Dummerweise konnte seitdem kein anderes Konzept diese Lücke füllen.

Nehmen wir etwa das berühmte biologische Spezieskonzept von Theodosius Dobzhansky und Ernst Mayr, mit dem sie grob vereinfacht konkrete oder potenzielle Fortpflanzungsgemeinschaften als Arten definierten. Doch wie passen hier obligate Selbstbefruchter wie etwa viele parasitäre Würmer hinein? Streng nach Dobzhansky und Mayr wäre jedes Individuum eine eigene Art – und jeder neugeborene Wurm wäre gleichsam der Gründer einer neuen Spezies, die mit ihm auch gleich wieder ausstirbt.

Ohne Sex keine Art?

Und wie steht das Biologische Spezieskonzept zu der Tatsache, dass die meisten Organismen auf unserer Erde sich überhaupt nicht sexuell fortpflanzen? Ernst Mayr meinte dazu einmal lapidar: „Solche Organismen bilden keine Arten.“ Dumm nur, dass sie die Mehrheit auf Erden stellen. Zu Recht warfen seine Kritiker daher ein: „Wenn das Biologische Spezieskonzept die meisten Organismen als ‚abweichend’ qualifiziert, dann stimmt etwas nicht damit, wie es ‚normal’ spezifiziert.“

Gut über dreißig weitere Spezieskonzepte wurden bis heute vorgeschlagen. Je nach Fokus heißen sie typologisch, phylogenetisch, evolutionär, genetisch, ökologisch oder reproduktiv – je nach Zweck sind sie rein theoretisch oder operational. Einige suchen nach dem einen allumfassenden Artkonzept – andere sagen, dass je nach Fragestellung verschiedene Konzepte gelten können. Eine dritte Fraktion sieht in „Arten" gar nur menschgemachte Konstrukte, die nichts mit der biologischen Realität zu tun haben und lediglich dazu dienen, die natürliche Vielfalt in verdaubare Happen einzuteilen.

Warum gibt es überhaupt Arten?

Vielleicht hilft es bei dem Wirrwarr zu fragen, welchen Sinn Arten überhaupt haben könnten. Warum ist die genetische Variabilität der Natur sozusagen in diskreten Packungen organisiert, die wir Arten nennen? Oder anders gefragt: Welche Selektionskräfte favorisieren die Entstehung und Fixierung von Arten, inklusive deren stabiler Trennung voneinander?

Die Antwort ist eigentlich simpel: Ohne arterhaltende Isolationsmechanismen würden sich Genkombinationen, die einer Spezies ihre ganz spezifische Lebensweise überhaupt erst ermöglichen, sofort wieder auskreuzen und verschwinden. Nur wenn ein solches Auskreuzen unterbunden wird, kann die Integrität eines unter gewissen Selektionsbedingungen etablierten und funktionierenden Gen-Pools geschützt werden. Jedes System, das dies bietet, muss daher im evolutionären Wettbewerb überlegen sein. Eines davon ist das System „Spezies“.

Klingt plausibel. Doch auch diejenigen, die in „Arten“ lediglich abstrakte Konzepte sehen, haben Argumente. Eines davon ist, dass Arten nicht in Stein gemeißelt sind, sondern über evolutionäre Zeiträume vielmehr in stetigem Wandel begriffen. Arten können daher nur Momentaufnahmen sein, sagen sie – und sehen daher keinen Sinn darin, etwas derart Flüchtiges in Konzepte zu packen.

Wie viel Unterschied reicht?

Überhaupt sind die meisten Biologen viel mehr daran interessiert, Spezies im Hier und Jetzt zu identifizieren statt sie zu definieren. Und dazu brauchen sie keine theoretischen Kon-zepte als vielmehr Re-zepte zur Grenzziehung zwischen einzelnen Arten. Doch das Kernproblem bleibt auch hier das gleiche: Welcher Grad an Unterschieden reicht aus, um zwei Organismen zwei verschiedenen Arten zuzusprechen? Und bis zu welchem Grad handelt es sich umgekehrt um die Variation zwischen zwei Populationen dergleichen Spezies?

Schon Darwin sagte, dass es keine feste Menge an Unterschieden gibt, die eine Spezies von der anderen abgrenzt. Leider trifft das auch auf die molekularen Vergleiche reiner DNA-Sequenzen zu, von denen sich in jüngerer Zeit viele eine Lösung des Spezies-Problems erhofft hatten. Auch hier zeigte sich jedoch schnell, dass eine Artabgrenzung allein aufgrund der Menge an Sequenzunterschieden ebenfalls schwer in die Irre führen kann. Eindrucksvollstes Beispiel sind wiederum die berühmten Artenschwärme der ostafrikanischen Buntbarsche. Allein im Victoriasee gibt es über fünfhundert verschiedene Buntbarsch-Spezies, dennoch variieren deren Genomsequenzen in der Summe weniger stark als diejenigen der verschiedenen menschlichen Populationen.

Arten entstehen nicht nur durch den einen Mechanismus

Gibt es folglich überhaupt eine Chance, Spezies generell zu definieren? Klar ist: Solange Arten nicht aufgrund der Mechanismen eingeteilt werden, durch die sie zu Arten werden und solche bleiben, sind die Gruppierungen artifiziell. Und damit hat man auch das Problem: Diese Mechanismen sind vielfältig. Es gibt nicht nur eine Klasse von Mechanismen, durch die Arten entstehen und stabil bleiben.

Folglich kann es auch kein universelles mechanistisches Spezieskonzept geben. Dazu sind die Mechanismen selbst, wie sich Arten voneinander abgrenzen, in den einzelnen Organismengruppen zu unterschiedlich. Die Folge ist, dass der Begriff „Spezies“ über Bakterien, Einzeller, Flechten, Pilze, Parasiten, Vögel, Gräser und so weiter nicht jedes Mal denselben Typ evolutionäres Phänomen beschreibt. Oder anders gesagt: Die Mechanismen, die kausal bestimmte Lebewesen von wieder anderen „verschieden machen“, haben sich selbst evolutionär entwickelt – und zwar viele unabhängig voneinander.

Auch Mayrs „Biospezies“ ist demnach eine evolutionär abgeleitete Eigenschaft, die sich erst mit dem Entstehen sexueller Fortpflanzung vor etwa 600 bis 1.000 Millionen Jahren entwickeln konnte. Letztlich entstand dadurch nicht mehr als eine neue Klasse von Art-Isolierungsmechanismen – neben all den anderen, die bereits vorher existierten.

Es gibt daher nicht den einen allgemeingültigen Modus, ein Art zu sein. Und so viele kausale Wege es gibt, eine Spezies zu werden und zu bleiben, so viele mechanistische Spezieskonzepte wird es auch geben. Und deswegen ist beispielsweise eine Pilz-Spezies etwas anderes als eine Bakterienart – und eine Froschart wieder etwas anderes.

Ralf Neumann

(Foto: WallpaperSafari)

 

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Letzte Änderungen: 27.07.2023