Editorial

Taktischer Rückzug

(05.10.2023) Zu starre Bürokratie, schlechtes Studiendesign oder schwierige Umstände? Hersteller ziehen immer mehr Medikamente vom deutschen Markt zurück.
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„44% of the patients showed partial or complete cancer shrinkage after being treated with Tabrecta,“ heißt es vielversprechend auf der Website der Europäischen Arznei­mittel­agentur (EMA). Danach folgt jedoch ein Satz, der das Schicksal des Tyrosinkinase-Hemmers von Novartis – zumindest in Deutschland – (vorerst) besiegelt hat. „In this study, Tabrecta was not compared with any other treatment for NSCLC [nicht-kleinzelligem Lungenkrebs] or with placebo (dummy treatment).“ Die fehlende Vergleichsstudie gab den Ausschlag dafür, dass das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) dem Medikament keinen Zusatznutzen bescheinigen konnte. Daraufhin verlautbarte der Schweizer Pharmariese, dass Tabrecta oder Capmatinib ab dem 15. September nicht mehr in Deutschland vertrieben wird (siehe Pressemeldung der DGHO vom 13.9.23).

Die Geschichte erinnert an den Amivantamab-Fall, über den Laborjournal im März ausführlich berichtet hatte (siehe „Nach der Zulassung ist vor dem Rückzug“ in LJ 3/2023). Hier war es der Hersteller Janssen-Cilag, der das Medikament zur Behandlung von Erwachsenen mit fortgeschrittenem nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC) vom Markt nahm. Zum Entsetzen vieler Patienten und Ärzte. „Die Alternative ist mit der Chemotherapie eine in diesem Fall schlechtere Therapie, eine toxische Therapie“, sagte uns damals Frank Griesinger. Direktor der Klinik für Hämatologie und Onkologie der Oldenburger Universitätsmedizin.

Editorial

Viel Frustration

Wie Amivantamab ist auch Capmatinib ein Medikament zur Behandlung seltener Formen von Lungenkrebs. Der therapeutische Antikörper Amivantamab soll sogenannte aktivierende EGFR-Exon-20-Insertions­mutationen korrigieren, Capmatinib eine METex14-Skipping-Mutation. Letztere sorgt dafür, dass der auch c-Met oder HGFR genannte Mesenchymal-epithelial Transition Factor, eine Rezeptor-Tyrosinkinase, in Zellen überaktiv oder überexprimiert ist. Capmatinib bindet c-Met und schickt die Tumorzelle in den Zelltod.

Bereits im Juni 2022 hatte die EMA ihr Zulassungs-OK gegeben. In Deutschland folgt darauf noch eine weitere Überprüfung, die unter der Abkürzung AMNOG (kurz für Arzneimittel­marktneuordnungsgesetz) in letzter Zeit zu viel Frustration bei den Pharma­herstellern geführt hat. Während des AMNOG-Verfahrens schaut sich das IQWIG im Auftrag des Gemeinsamen Bundes­ausschusses (G-BA) die zulassungs­relevanten Studien noch einmal genauer an, um zu bestätigen, dass das Medikament im Vergleich zur Standard­therapie auch tatsächlich einen Zusatznutzen bringt. Hinter der recht einfachen Frage versteckt sich jedoch ein Menge Geld. Denn je nachdem, wie die Antwort ausfällt, kann das Pharma­unternehmen anschließend seine Preisvorstellungen bei den Krankenkassen durchsetzen oder nicht. Wird kein Zusatznutzen beschieden, bekommt das Unternehmen mehr oder weniger nur den Preis der Vergleichs­therapie erstattet. Und diese Preise können sich erheblich voneinander unterscheiden. Für Amivantamab betrug die Preisvorstellung 135.000 Euro, bei Capmatinib 115.000 Euro.

Nicht kontrolliert und offen

In beiden Fällen befand das IQWIG, dass es keinen Zusatznutzen feststellen konnte – allerdings nicht, weil es diesen nicht gibt, sondern weil die Datenlage nicht ausreicht, um sich ein solches Urteil zu erlauben. Das liegt vor allem am Studiendesign, so der IQWIG-Abschlussbericht zu Capmatinib: „Die vom pU [pharmazeutischen Unternehmer] vorgelegten Ergebnisse sind nicht für die Bewertung des Zusatznutzens von Capmatinib im Vergleich zu der zweckmäßigen Vergleichs­therapie geeignet“. Die Zulassung von Capmatinib basierte auf „GEOMETRY mono-1“, einer einarmigen, offenen Studie mit 92 Patienten in sieben Kohorten. Amivantamab testete Janssen-Cilag in der CHRYSALIS-Studie zwar allein und in Kombination mit anderen gängigen Krebsmitteln, es fehlte jedoch der Vergleichsarm ohne den therapeutischen Antikörper.

Janssen führte als Entschuldigung an, dass es bei seltenen Erkrankungen einfach nicht genug Patienten für Studien gibt. Auch Novartis’ Lungkrebsmittel käme nur für 200-400 Patienten pro Jahr überhaupt infrage. Der G-BA lässt das aber nicht gelten. Auf Laborjournal-Nachfrage verweist er auf das Blutkrebs-Medikament Blinatumomab. „In Deutschland gibt es jährlich sieben bis dreißig Kinder, für die eine solche Therapie infrage kommt. Dennoch schaffte es das Biotech-Unternehmen Amgen, insgesamt 108 Kinder und Jugendliche an 47 Zentren in 13 Ländern in die Studie einzuschließen“, verdeutlicht LJ-Autorin Sigrid März in ihrem Amivantamab-Artikel.

Novartis und Janssen haben sich jedoch dafür entschieden, deutschen Lungenkrebs-Patienten ihre Medikamente nicht mehr zur Verfügung zu stellen. Damit sind sie keineswegs allein. Ebenfalls diesen Sommer zog ein weiterer Hersteller, Boehringer Ingelheim, sein Psoriasis-Medikament Spevigo (Spesolimab) vom deutschen Markt zurück (siehe DAZ Online, 31.8.2023). Und poltert dabei ordentlich gen IQWIG und G-BA.

Kontrolliert, aber nicht zweckmäßig

Spesolimab ist ebenfalls ein therapeutischer Antikörper, ein Immun­modulator, um genau zu sein. Er bindet an den Interleukin-36-Rezeptor, ein Zytokin, und zieht ihn dadurch aus dem proentzündlichen Aktivierungsverkehr. Zugelassen ist er seit Dezember 2022 in Europa, auf den deutschen Markt kam er im Februar 2023. Gleichzeitig startete das AMNOG-Verfahren. Mitte Juli hatte sich das IQWIG eine abschließende Meinung gebildet und gab bekannt: „Die vom pharmazeutischen Unternehmer eingeschlossene Studie EFFISAYIL 1 ist nicht geeignet, um Aussagen zum Zusatznutzen von Spesolimab im Vergleich mit der zweckmäßigen Vergleichs­therapie für Patientinnen und Patienten mit generalisierter pustulöser Psoriasis (GPP) zu treffen.“ Der Zusatznutzen konnte also wieder nicht belegt werden, zumindest nicht mit der vom Hersteller eingereichten Studie. Diese Phase-2-Studie bezog 53 Patienten ein, die entweder Spesolimab oder einen Placebo erhielten. Sie war also kontrolliert. Jedoch nicht mit der „zweckmäßigen Vergleichs­therapie“, in diesem Falle systemischen Glucocorticoiden wie Prednisolon.

Für das IQWIG war die Sache damit klar, für Boehringer allerdings auch. Ende August nahm der rheinhessische Pharma­hersteller Spesolimab vom deutschen Markt. Denn ohne den Beleg des Zusatznutzens hätte das Unternehmen bei den Verhandlungen mit den Krankenkassen ziemlich schlechte Karten. So schlägt eine Glucocorticoid-Behandlung mit etwa 300 bis 600 Euro pro Jahr zu Buche. Für Spesolimab veranschlagte Boehringer Jahres­therapie­kosten von rund 22.000 Euro. Der Betrag ist in dem meisten Fällen allerdings nur ein einziges Mal fällig. Dennoch könnte man mit dieser Summe eine Glucocorticoid-Behandlung fast 40 Jahre lang bezahlen.

G-BA vor Gericht

Gegenüber der dpa beklagte Sabine Nikolaus, Vorsitzende der Geschäfts­führung der Boehringer Ingelheim Deutschland GmbH, dass „Innovationen in Deutschland oft Opfer starrer Prozesse und Vorgaben“ sind. Außerdem fügte sie hinzu, „muss das Nutzen­bewertungs­system dringend geändert werden. Vor allem für neuartige Therapien und im Bereich seltener Erkrankungen braucht der Nutzen­bewertungs­prozess mehr Spielraum und Flexibilität, damit es nicht zur kategorischen Ablehnung verfügbarer Evidenz kommt.“ Boehringer Ingelheim geht nun gerichtlich gegen den Beschluss des G-BA vor.

Und was sagen die Betroffenen? Patienten­vertreter haben an den Beratungen zur Zusatznutzen-Bewertung von Spesolimab teilgenommen. Auch sie stimmten der Entscheidung zu. Auf der Psoriasis-Community-Website www.psorias-netz.de kommentiert Rolf Blaga: „Als Patienten wollen wir uns darauf verlassen können, dass die Wirkung und der Nutzen eines Medikaments seriös nachgewiesen wird. Deshalb ist es richtig, dass das eine unabhängige Einrichtung überprüft. Dabei können Fehler passieren, die der Hersteller aber noch vor der endgültigen Entscheidung in einer Anhörung klären kann. […] für 47 Prozent der in Deutschland neu zugelassenen Präparate wurde kein Zusatznutzen festgestellt. Das ist ärgerlich für die betroffenen Hersteller. Aber es verhindert, dass Patienten mit grundlos überteuerten Produkten behandelt werden. Für die betroffenen GPP-Patienten hoffen wir, dass die Experten letztendlich belegen können, dass eine Behandlung mit dem Biologikum Spevigo allemal besser ist als die Einnahme starker Corticoide.“

Kathleen Gransalke

Bild: Pixabay/josealbafotos


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Letzte Änderungen: 05.10.2023