Doppelt giftige Bakterie
(30.10.2023) Aetokthonos hydrillicola möchte man nicht zu nahe kommen. Es produziert sowohl ein Neurotoxin, als auch einen Giftstoff, der den Zellzyklus hemmt.
Cyanobakterien sind Gram-negative, oft in aquatischen Ökosystemen anzutreffende photoautotrophe Bakterien. Ihre Bekanntheit in Lehrbüchern verdanken sie vor allem spezialisierten Heterocysten innerhalb von Bakterienketten, in denen Stickstofffixierung stattfindet. Als Produzenten verschiedener Substanzen gegen Bakterien, Pilze, Viren und Tumore sind Cyanobakterien auch für die Wirkstoffforschung interessant. In warmen stehenden Gewässern, wie Teichen und Seen mit reichhaltigem Phosphor- und Stickstoffangebot, gedeihen Cyanobakterien in Zeiten des Klimawandels mitunter besser als es Badegästen lieb ist. Denn die zahlreichen bioaktiven Sekundärmetaboliten dieser Bakterien können auch Hautreizungen, Infektionen im Gastrointestinaltrakt oder, in seltenen Fällen, sogar tödliche Schädigungen im Nervensystem hervorrufen.
Neuro- und zytotoxische Substanzen
An der Entdeckung eines Neurotoxins des Cyanobakteriums Aetokthonos hydrillicola, publiziert 2021 in Science (371(6536):eaax9050), war die Arbeitsgruppe von Timo Niedermeyer aus dem Institut für Pharmazie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg maßgeblich beteiligt. Damals zeigte das internationale Forscherteam, dass A. hydrillicola ein fünffach bromiertes neurotoxisches Alkaloid synthetisiert, das über die Nahrungskette bis in Raubvögel gelangen kann. So ließ sich ein klarer Zusammenhang zwischen der Aetokthonotoxin (AETX) – oder auch „Adlermörder“ – genannten Substanz und einem Massensterben von Weißkopfseeadlern in den USA in den 1990er-Jahren herstellen.
In einer aktuellen Publikation der Arbeitsgruppe (jetzt tätig an der Freien Universität Berlin) beschreibt Erstautor Markus Schwark zusammen mit tschechischen und US-amerikanischen Kolleginnen und Kollegen, dass A. hydrillicola auch cytotoxische Substanzen synthetisiert. Dass das Bakterium nicht nur einen einzigen Giftstoff herstellt, ließ sich daraus folgern, dass auch Zellextrakte toxisch waren, die kein Aetokthonotoxin enthielten.
Von Meeresschnecken inspiriert
Das Autorenteam untersuchte deshalb chromatographisch aufgetrennte Fraktionen des Extraktes auf ihre Cytotoxizität gegenüber HeLa-Zellen und unterzog aktive Fraktionen ein- und zweidimensionalen massenspektrometrischen Analysen. Dabei zeigten sich typische Peptidsignaturen, Valin und Isoleucin, dazu zwei nicht-proteinogene Aminosäuren und ein bisher unbeschriebenes Monomer peptidischer Naturprodukte (peptide natural products). Die Substanz mit der hauptsächlichen Wirkung nannten sie Aetokthonostatin (AEST). „Wir waren sehr überrascht, als wir die Struktur dieses Toxins aufgeklärt hatten. Es ähnelt Toxinen, die bereits aus marinen Cyanobakterien bekannt sind“, erinnert sich Schwark in einer Pressemeldung.
Aetokthonostatin gehört zur Familie der Dolastatine, bekannten nicht-ribosomal synthetisierten peptidischen Sekundärmetaboliten von Cyanobakterien, die ihren Namen von einer Meeresschnecken-Gattung (Dolabella, Seehasen) erhielten. Die Cytotoxizität von AEST gegenüber HeLa-Zellen ließ sich mit einer mittleren effektiven Konzentration von nur 1 nM quantifizieren. Dagegen vertrugen Fadenwürmer (C. elegans) zwar etwa 56 µM der Substanz, zeigten aber ebenfalls bei rund 1 nM eine um 50 Prozent reduzierte Reproduktionsrate. Wie das strukturell verwandte Dolastatin 10 inhibiert auch das Statin von A. hydrillicola die Polymerisation von Tubulin, was die Autorinnen und Autoren auf zellulärer Ebene durch Immunfluoreszenz nachweisen und in silico durch Docking-Studien und Molekulardynamik-Simulationen untermauern konnten.
Hinweise auf Synthese
Für sein 2021er-Paper hatte das Forscherteam A. hydrillicola zwar bereits sequenziert, doch mit verbesserter Technik bestimmte es die DNA-Sequenz erneut, um der Genetik hinter der AEST-Biosynthese auf die Spur zu kommen. Auf Basis der chemischen Struktur von AEST suchten Schwark et al. nach Genclustern, die vor allem nicht-ribosomale Peptidsynthasen (NPRS) und Polyketidsynthasen (PKS) codieren und wurden fündig. Zwölf Gene (aesA bis aesK sowie ein weiteres offenes Leseraster) in einer knapp 40 kpb umfassenden Sequenz gaben nach BLAST-Analysen einen deutlichen Hinweis, wie die Synthese des neuen Dolastatins bewerkstelligt werden könnte.
Funktionell fanden sich unter den Genprodukten des identifizierten Clusters neben NRP- und PK-Synthasen auch Methylasen und Hydrolasen. Dass sich die Reihenfolge der Gene nicht in der Abfolge der Synthese widerzuspiegeln scheint, ist für NRPS/PKS-Biosynthesen nicht untypisch. Nach der Vorhersage wird zunächst Isoleucin methyliert und mit Valin und einem weiteren N-Methylisoleucin-Molekül verbunden. Das Resultat der weiteren Syntheseschritte ist das fertige Dolastatin AEST mit fünf Aminosäuren und der Summenformel C43H76O7N5. Bei der heterologen Expression in E. coli zeigte AesK als eine von drei getesteten postulierten Methyltransferasen enzymatische Aktivität.
Künftiges Krebstherapeutikum?
Das medizinische Interesse an Dolastatinen wurde wegen deren Antitumor-Aktivität schon vor über 30 Jahren geweckt. Tatsächlich wurden und werden bereits einige Dolastatin-Derivate in klinischen Studien für mögliche Krebstherapien untersucht oder sind bereits als Antikörper-Konjugate zugelassen (Mar Drugs, 19(7): 363). Die umfassende und interdisziplinäre Charakterisierung des neuen Dolastatins trägt dabei nicht nur zu einem besseren Verständnis der biosynthetischen Kapazitäten von Cyanobakterien bei, sondern könnte auch den Weg für die weitere Untersuchung eines potenziellen Antitumormittels bahnen.
Ralph Bertram
Schwark M. et al. (2023): More than just an eagle killer: The freshwater cyanobacterium Aetokthonos hydrillicola produces highly toxic dolastatin derivatives. PNAS, 120 (40) e2219230120.
Bild: Lenka Štenclová (Kolonie A. hydrillicola) & OpenClipart-Vectors
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