Editorial

Von Arexvy bis Zilucoplan

(04.01.2024) Über 70 Wirkstoffe bekamen 2023 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur den Daumen hoch – darunter Mittel gegen Krebs, Myasthenia gravis und Haarausfall.
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Selten hat die Öffentlichkeit mit so großer Spannung auf eine Sitzung des Ausschusses für Human­arzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) gewartet wie im Dezember 2020. Kurz vor Weihnachten dann die erlösende Nachricht: „EMA recommends first COVID-19 vaccine for authorisation in the EU“. Jubel allerorten, die großangelegte Impfkampagne mit Biontechs mRNA-Vakzin Comirnaty (und kurze Zeit später Modernas Spikevax) konnte beginnen.

Seitdem ist das öffentliche Interesse an den EMA-Ausschuss­sitzungen deutlich abgeebbt. Nichtsdestotrotz trifft sich der CHMP weiterhin jeden Monat (außer im August), um über die potenzielle Zulassung von neuen Arzneimitteln für den europäischen Markt zu beraten. Meistens fällt sein Urteil positiv aus. Insgesamt haben im letzten Jahr 77 Arzneimittel grünes Licht von der EMA bekommen, dazu zählen auch neue Generika, Biosimilars und sogenannte hybride Arzneimittel (die, einfach ausgedrückt, in einer anderen Form bereits zugelassen sind). Ganze 19-mal haben Antragsteller aber auch ihren Zulassungs­antrag wieder zurückgezogen – aus unterschiedlichsten, oft strategischen, Gründen. Viermal hat die EMA einen Antrag abgelehnt. Schauen wir uns im Folgenden ein paar der Wirkstoffe an, die den Daumen hoch bekommen haben.

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Noch ein Impfstoff

Dazu gehören unter anderem vier(einhalb) Impfstoffe. Und zwar ein Grippeimpfstoff gegen den H5N1-Subtyp des Influenza-A-Virus, dazu kommen zwei lang erwartete Vakzine gegen das Humane Respiratorische Synzytial-Virus (RSV): Pfizers Abrysvo ist für Kinder zugelassen, GlaxoSmithKlines Arexvy für Menschen über 60. Bei beiden handelt es sich um rekombinante Protein­impfstoffe. Vakzin Nummer vier ist der achte in der EU zugelassene COVID-19-Impstoff. Bimervax des spanischen Tierimpfstoff-Herstellers Hipra Health enthält Teile des viralen Spike-Proteins der Alpha- und Beta-Virusvarianten und kann als Booster eingesetzt werden. Ein weiterer „Impfstoff“ ist Apretude zur sogenannten HIV-Präexpo­sitions­prophylaxe (PrEP). Die aktive Substanz namens Cabotegravir hemmt dabei die virale Integrase, die normalerweise dafür sorgt, dass sich das Retrovirus ins Wirtsgenom hineindrängeln kann.

Ohne große Überraschung machen Krebsmedikamente den Großteil der neuen Zulassungs­empfehlungen aus. Fast 20 Antitumormittel erhielten eine „positive opinion“ vom CHMP, die meisten zur Behandlung von unterschiedlichen Blutkrebs­arten wie Lymphoma, Myeloma und Leukämie. Am häufigsten entwickelten Forscherinnen dabei Inhibitoren gegen verschiedene Kinasen (Janus-, Brutontyrosin- oder Mitogen-aktivierte Proteinkinasen) sowie monoklonale, bispezifische Antikörper.

Alt und neu

Im Gegensatz zur Konkurrenz setzt das irische Pharma­unternehmen Jazz Pharmaceuticals zur Behandlung der akuten lymphatischen Leukämie mit seinem Medikament Enrylaze auf ein Enzym, die Crisantaspase. Das Enzym baut Asparagin zu Asparaginsäure ab, die Konzentration von Asparagin im Blut sinkt. Krebszellen sind jedoch für ihr Wachstum auf diese Aminosäure angewiesen, sie können sie wie gesunde Zellen nicht selbst produzieren. Die Crisantaspase ist in der Krebsbehandlung lange bekannt, es kommt jedoch immer wieder zu Lieferengpässen und einige Patientinnen entwickeln gegen das in E. coli produzierte Enzym Allergien.

Ganz neu („first in class“) ist hingegen das seit Mai zugelassene Krebsmedikament Tibsovo zur Behandlung der akuten myeloischen Leukämie und biliärer, die Galle betreffender, Karzinome. Der in Tibsovo enthaltende Wirkstoff Ivosidenib hemmt die Iso­citrat-Dehydro­genase-1 (IDH1). Deren Gen ist bei manchen Krebsarten, neben Leukämie auch bei Gliomen, mutiert, was eine Überproduktion von 2-Hydroxy­glutarat (2-HG) zur Folge hat. Der 2-HG-Überschuss wiederum behindert die Arbeit von Demethylasen und sorgt so für eine hyper­methylierte DNA. Letztlich kann das in eine Aktivierung von Oncogenen umschlagen.

Erstaunlicherweise befindet sich unter den für eine Zulassung empfohlenen Arzneimitteln nur ein einziges zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, obwohl diese noch immer die häufigste Todesursache weltweit darstellen. Das Benzyl­amin-Derivat Mavacamten (Handelsname: Camzyos) von Bristol-Myers Squibb bindet an Myosin im Herzmuskel und verhindert so Querbrückenverbindungen zu Aktin-Molekülen. Übermäßige Querverbindungen zwischen Myosin und Aktin sind das Hauptproblem bei der hypertrophen Kardio­myopathie, die mit Atemnot unter Belastung und Herz­rhythmus­störungen einhergeht.

Zweimal Myasthenia gravis

Gleich zwei neue Arzneimittel, beide vom belgischen Pharma­unternehmen UCB bei der EMA eingereicht, kommen Personen mit Myasthenia gravis zugute. Verursacht wird die nichterbliche Autoimmunerkrankung durch Autoantikörper, die statt des eigentlichen Transmitters an muskuläre Acetylcholin-Rezeptoren binden. Als Folge ist die Signalübertragung zwischen Muskel und Nerv gestört, die Betroffenen leiden unter Muskelschwäche. Hier setzt das von der EMA im November positiv bewertete Rystiggo an, ein monoklonaler Antikörper, der via Bindung an den neonatalen FcRn-Rezeptor die Konzentration der pathogenen IgG-Autoantikörper verringert. Seit Dezember zugelassen ist außerdem Zilbrysq (Wirkstoff: Zilucoplan). Das makrozyklische Peptid bindet an den Komplementfaktor C5 und verhindert dadurch die Aktivierung des Komplementsystems, das bei Myasthenia gravis die Acetylcholin-Rezeptoren zusätzlich beschädigt.

Kurz vor Toresschluss beriet der Ausschuss für Human­arzneimittel auch noch über die Zulassungsempfehlung für das erste Arzneimittel auf Basis von CRISPR/Cas9. Wir berichteten bereits im Mai 2023 über die mögliche Zulassung von Casgevy zur Behandlung von beta-Hämo­globinopathien (siehe „Gentherapie kurz vor dem Ziel“). Am 15. Dezember war es schließlich so weit, die EMA gab mit großer Fanfare den Weg frei. Allerdings unter der Bedingung, dass noch bis August 2026 Daten laufender klinischer Studien nachgereicht werden.

Haarausfall und weiße Flecken

Pfizers neuester Kassenschlager könnte Litfulo alias Ritlecitinib werden – ein Janus- und Tec-Kinasehemmer, der die Haare bei Alopecia areata oder kreisrundem Haarausfall wieder sprießen lässt. Laut einer Online-Apotheke kostet eine Packung mit 30 Hartkapseln auf Privatrezept 1.300 Euro (allerdings „derzeit nicht lieferbar“). Bei täglicher Einnahme einer Kapsel über einen Behandlungszeitraum von maximal 36 Wochen summieren sich die Kosten also auf rund 10.000 Euro. In Deutschland sind mehr als eine Million Menschen von Alopecia betroffen. Eine Million mal 10.000 Euro macht … eine Eins mit ganz vielen Nullen.

Auch das seit April 2023 zur Therapie der Weißfleckenkrankheit (Vitiligo) zugelassene Ruxolitinib (Handelsname: Opzelura) von Incyte Biosciences ist nicht gerade günstig (die 100-g-Tube kostet etwa 1.000 Euro, auf Kassenrezept 10 Euro) und hemmt Januskinasen. Als Creme aufgetragen verhindert es in der Haut die Zerstörung von Pigment produzierenden Melanocyten durch das Immunsystem.

Demnächst kommt außerdem mit Skyclarys (ein synthetisches Triterpenoid) der erste Wirkstoff zur Behandlung der seltenen Friedreich-Ataxie auf den europäischen Markt. Die ebenfalls seltene Erkrankung Morbus Fabry (siehe dazu auch unseren Artikel „Diagnostik-Pingpong“) kann künftig mit dem heroisch benannten und in Nicotiana-tabacum-Zellen produzierten Ersatzenzym Elfabrio therapiert werden. Enzymatisch, mit einer Pegzilarginase (Handelsname: Loargys), rückt man auch der Arginase-1-Mangel-Erkrankung zu Leibe, bei der sich Arginin und Ammoniak im Blut ansammeln. Hinzu kommen Medikamente gegen Candida-Pilz­infektionen (Rezafungin), Hitzewallungen während der Wechseljahre (mehr dazu in unserem „Wirkstoff“-Artikel zu Fezolinetant), chronischen Husten (Gefapixant) und zur Migräne-Prophylaxe (Atogepant).

In der Kategorie für das Medikament mit dem unaussprechlichsten Handelsnamen haben wir drei Gewinner gekürt: Zilbrysq (bei Myasthenia gravis), Ztalmy (bei der CDKL5-Mangel-Erkrankung) und Sotyktu (bei Psoriasis). Herzlichen Glückwunsch.

Kathleen Gransalke

Bild: Pixabay/EmilianDanaila


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Letzte Änderungen: 04.01.2024