Editorial

„Es gibt sehr viele
offene Fragen“

(15.01.2024) Warum breitet sich das West-Nil-Virus nicht in Europa aus? Wie beeinträchtigt SARS-CoV-2 die Atemwege? Wolfgang Baumgärtner sucht nach Antworten.
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„Ein gutes Drittel der Infektionskrankheiten, die wir bei Tieren finden, hat ein zoonotisches Potential“, berichtet Wolfgang Baumgärtner. Dass demnach auch tierärztliche Expertise gefragt ist, wenn es um Pandemien geht, haben wir unlängst in unserer Publikationsanalyse zur Tiermedizin erläutert. In genau diesem Ranking belegt der inzwischen emeritierte Hannoveraner Forscher Platz 22 der meistzitierten Köpfe.

Bis zum Oktober 2023 leitete er die Abteilung Diagnostik und die Arbeitsgruppe für Neuropathologie und Neuro­immunologie im Institut für Pathologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover, und Baumgärtner rief das von der DFG finanzierte Graduiertenkolleg VIPER ins Leben („Virusdetektion, Pathogenese und Intervention“). VIPER soll Doktoranden auf einen interdisziplinären Blick hin ausbilden, Tier- und Humanmedizin enger verzahnen und Expertise aus Pathologie, Mikrobiologie, Immunologie und Epidemiologie zusammenbringen. „Um bei der nächsten Pandemie vielleicht ein bisschen besser vorbereitet zu sein“, nennt Baumgärtner eine Motivation. Inzwischen hat Baumgärtners Nachfolger Andreas Beineke die Leitung von VIPER übernommen. Mit Baumgärtner sprachen wir über Tierkrankheiten, Pandemie-Potential und seine Forschungen zu SARS-CoV-2 am Hamstermodell.

Editorial

In einer aktuellen Publikation, an der Sie mitgewirkt haben, ging es um das Rustrela-Virus, das erst 2020 entdeckt wurde. Bekannt ist, dass es bei diversen Katzen-Arten Hirnhaut­entzündungen auslösen kann und auch Waldmäuse infiziert. Im besagten Paper untersuchen Sie Gewebeproben von drei Löwen aus den 1980er-Jahren, die in deutschen Zoos an Hirnhaut­entzündungen erkrankt waren – und weisen darin das Rustrela-Virus nach (Emerg Infect Dis, 29(5): 1042–45). Das Virus war also schon lange vor seiner Entdeckung sogar bei Großkatzen im Umlauf, die in menschlicher Nähe lebten. Obwohl man heute dank moderner Sequenziermethoden alle möglichen Erreger schnell aufspüren und charakterisieren kann, beantwortet das aber noch immer nicht die Frage, ob solche Viren auch den Menschen infizieren können. Wie kann man zoonotischen Risiken auf den Grund gehen?
Wolfgang Baumgärtner: Die eine Frage ist, ob es bereits epidemiologische Hinweise für ein Auftreten beim Menschen gibt. Nehmen wir mal das Schmallenberg-Virus.

Das auch erst seit gut einem Jahrzehnt bekannt ist.
Baumgärtner: Genau. Das führt beim Rind zu Leistungs­verminderungen und Missbildungen bei den Nachkommen. Man hat aber zu keiner Zeit ein Auftreten ähnlicher Krankheitsbilder beim Menschen gesehen. Dann kann man serologisch schauen, ob wir beim Menschen Hinweise auf eine Immunantwort finden. Das könnte dann auf einen Kontakt mit dem Erreger hindeuten, auch wenn sich keine Krankheitssymptome entwickelt haben. Ein anderes Beispiel ist das Borna-Virus, das wir in der Tiermedizin seit fast 100 Jahren bei Pferden und kleinen Wiederkäuern als Enzephalitis-Erreger kennen. Das tritt auch bei zahlreichen anderen Spezies auf, und es gibt verschiedene Varianten. Retrospektiv hat man dann festgestellt, dass das Borna-Virus auch für Erkrankung und Tod von Menschen verantwortlich war, indem man Gehirne nachträglich untersucht hat (Acta Neuropathol, 138(4): 653-65).
Heute arbeitet man gern auch mit Gewebekulturmodellen. So kann man testen, ob sich humane Zellen in vitro infizieren lassen oder nicht. Die Frage zum zoonotischen Potential ist teilweise aber schwer zu beantworten. Das können Tiermediziner nicht alleine, sondern wir brauchen hierzu auch Epidemiologen. Oder wie im Beispiel Borna-Virus die Neuro­pathologen, die sich unklare Fälle genauer angesehen haben. Das Rustrela-Virus haben wir derzeit natürlich auch im Blick, denn wenn es bereits bei verschiedenen Spezies vorkommt, kann es möglicherweise auch den Sprung auf den Menschen schaffen. Im Moment scheint das aber nicht der Fall zu sein.

Selbst wenn der Sprung auf den Menschen stattfindet, droht nicht zwangsläufig eine Pandemie. Voraussetzung dafür ist ja, dass ein Erreger auch von Mensch zu Mensch effektiv übertragbar ist. Sie haben auch an Publikationen zu MERS-CoV mitgewirkt, einem Corona-Virus in Kameltieren, mit dem sich zwar immer wieder Menschen infizieren, offenbar aber ohne anschließend weitere Menschen anzustecken. Zumindest scheint dieser Weg unwahrscheinlich. Woran liegt es, dass wir uns mit einigen Erregern nur über den Kontakt zum Tier anstecken, andere Viren sich aber auch in der menschlichen Population ausbreiten?
Baumgärtner: Das ist im Nachhinein schwierig aufzuklären. Bei MERS haben wir uns ja auch die Frage gestellt, ob das Potential für eine Pandemie gegeben ist, als es außerhalb des Nahen Ostens plötzlich auch Ausbrüche in Korea gab. Zum Glück hatte sich dieser Ausbruch von selbst limitiert. Es kann verschiedene Gründe geben, warum ein Virus mit einem neuen Wirt besser oder schlechter zurechtkommt, zum Beispiel, wenn die Rezeptoren nicht gut passen. Es gibt aber sehr viele offene Fragen, warum es bei einigen Erregern mal zu Massenausbrüchen kommt und mal nicht. Es gab ein Auftreten des West-Nil-Virus an der Ostküste der USA. Von dort aus unternahm die Infektion einen rasanten Flug durch die USA, mit tausenden Erkrankungen. Gelegentlich sehen wir das West-Nil-Virus auch in Europa, aber bislang kam es nicht zu einer europaweiten Ausbreitung – weshalb auch immer.

Sie forschen auch am Krankheitsverlauf von SARS-CoV-2 und nutzen hierzu ein Hamstermodell. 2022 berichteten Sie, dass die damals neue Omikron-Variante beim Hamster mildere Symptome in den Atemwegen auslöst als die Vorgänger-Varianten (Nat Commun, 13(1): 3519). In einer Arbeit aus 2023 stellen Sie den Hamster als Modell vor, um langwierige Schäden der Lungenbläschen nach einer SARS-CoV-2-Infektion besser zu verstehen (Nat Commun, 14(1): 3267). Was macht ausgerechnet den Hamster so besonders als Corona-Modell?
Baumgärtner: Das basiert auf vielen Vorversuchen. Zunächst hatte man in silico ermittelt, welche Tierarten wahrscheinlich einen passenden ACE2-Rezeptor besitzen. Und dann folgten experimentelle Studien, wie empfänglich für SARS-CoV-2 unterschiedliche Tiere wie Hunde, Katzen, Marderhunde, Mäuse oder Hamster sind. Für bestimmte Aspekte hat sich der Syrische Goldhamster, den wir verwenden, als ideal herausgestellt, weil er Symptome an den Atemwegen entwickelt, die Krankheit aber überlebt. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass der Hamster als Modell für schwere Verläufe wenig geeignet ist. Schäden am Nervensystem oder hämatologische Störungen im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 können wir daran nicht untersuchen. Wir haben nicht das eine Modell für alle Fragestellungen. Aber wenn es um Pathologien in Lunge und Respirationstrakt geht, funktioniert das sehr gut. Inwieweit die Ergebnisse dann tatsächlich eins zu eins auf den Menschen zutreffen, müssen wir natürlich immer wieder abgleichen, zum Beispiel über Lungengewebe verstorbener Patienten.

Was ist hinsichtlich dieser Lungenveränderungen bei SARS-CoV-2 anders?
Baumgärtner: Ich bin mir nicht sicher, ob diese Veränderungen SARS-CoV-2-spezifisch sind. Der Körper reagiert ja sehr stereotyp, und vielleicht macht es keinen großen Unterschied, ob die Lunge mit Influenza oder SARS-CoV-2 infiziert war. Bei der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920 waren ja Millionen von Menschen erkrankt, und da gibt es zumindest anekdotenhafte Berichte über Phänomene, die wir heute als Long-Covid sehen. Vom Pfeifferschen Drüsenfieber kennen wir auch Erschöpfungszustände. Ich glaube, dass das häufig nicht mehr die direkte Folge des Erregers ist, sondern möglicherweise eine Dysregulation des Immunsystems; oder das Zusammenspiel mit anderen Faktoren. Bei Corona treten diese Spätfolgen aufgrund der Millionen Erkrankten in absoluten Zahlen natürlich besonders hervor.

Es wäre schön, wenn wir Vergleiche zu Erkältungsviren hätten. ME/CFS zum Beispiel war ja schon vor Corona bekannt, vor allem im Zusammenhang mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber (mehr zu ME/CFS in „Patienten und Forscher im Schattenreich“ auf LJ online). Aber auch dieses Krankheitsspektrum wird erst seit COVID-19 ernsthafter untersucht. Haben wir Erkältungskrankheiten bisher vernachlässigt?
Baumgärtner: Wir kennen die Erreger, insofern würde ich nicht sagen, dass wir sie vernachlässigt hätten. Aber wir haben diese Infekte immer als gegeben hingenommen. Die einzige respiratorische Erkrankung beim Menschen, die man seit Jahrzehnten erforscht, ist die Influenza, und das hängt sicher mit den Erfahrungen durch die Spanische Grippe zusammen. Sogar mit der Influenza hatten wir aber bis vor kurzem eine große Impfmüdigkeit.

Das Gespräch führte Mario Rembold

Bild: Theresa Ullrich (Porträt Baumgärtner) & Stable-Diffusion-KI (Viren)


Weitere Gespräche mit vielzitierten Forschern unserer Publikationsanalysen


- Nicht für Töne, sondern Sprache gemacht (Hals-Nasen-Ohren-Forschung)

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- Von Wurzeltiefe bis Fotosynthese-Kapazität (Tier- und Pflanzenökologie)

„It’s nuts but we try anyway“, sagten sich 2007 Jens Kattge und Kollegen. Daraus entstand die TRY-Datenbank mit Daten zu 310.000 Pflanzen.

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Letzte Änderungen: 15.01.2024