Editorial

„Das ist doch nur Müll“

(28.03.2024) In fast jedem von uns lauert das Epstein-Barr-Virus. Vor 60 Jahren beschrieb es ein Londoner Forschungsteam nach einer Reihe ungeplanter, aber glücklicher Zufälle.
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Pretty in pink: Drei EBV-Partikel unter dem Elektronenmikroskop.

„Ach, schmeiß weg, es ist Freitagnachmittag, Teatime! Die Probe ist doch ohnehin kontaminiert!“ Anthony Epstein am Middlesex Hospital in London hält ein Röhrchen mit einer trüben Flüssigkeit in seinen Händen. Vor mehr als 24 Stunden war es vom zentralafrikanischen Kampala aus losgeschickt worden, mit einem längeren, außerplanmäßigen Zwischenstopp in Manchester wegen zu dichten Nebels. Epstein gibt der Verführung eines frühen Feierabends und einer heißen Tasse Tee jedoch nicht nach, pipettiert ein wenig der Flüssigkeit auf einen Objektträger und geht damit zum Mikroskop. Viele solcher Röhrchen hatte das Team am Londoner Krankenhaus bereits untersucht, in der Hoffnung, in ihnen auf Viren zu stoßen und diese zu isolieren. Bisher ohne Erfolg.

Zwei Jahre zuvor, im März 1961, hatte Epstein in der letzten Reihe bei einem Vortrag gesessen, den ein recht unbekannter Chirurg namens Denis Burkitt hielt. Burkitt erzählte von seltsamen Tumoren, Schwellungen am Ober- bzw. Unterkiefer, die er an Kindern in Zentralafrika beobachtet hatte. Das Besondere: diese Art von Tumor war nur aus dieser Region bekannt, in der hohe Temperaturen und kräftige Regenfälle vorherrschen. Nach 20 Minuten des Vortrags begann Epstein immer aufgeregter zu werden, er konnte kaum noch still sitzen. Er war sich sicher, dass der Verursacher der Tumore biologischer Natur sein müsste. Ein Virus?

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Pakete aus Uganda

In seiner bisherigen Forschung hatte sich Epstein mit dem Rous-Sarkom-Virus beschäftigt. Dieses Retrovirus infiziert Hühner und löst Binde­gewebs­tumore, sogenannte Sarkome, aus. Das war schon seit 1911 bekannt, als der spätere Nobelpreisträger Peyton Rous seine Beobachtungen erstmals veröffentlicht hatte. Sollte es etwas Ähnliches auch beim Menschen geben? Ein Virus, das Tumore auslöst? Damals Anfang der 1960er-Jahre unvorstellbar.

Nach dem Vortrag lud Epstein Burkitt zum Tee ein, gemeinsam planten sie die Übersendung von Proben der seltsamen Tumore aus Zentralafrika, die später den Namen Burkitt-Lymphom tragen sollten. Bis die ersten Proben London erreichten, vergingen wegen verschiedener bürokratischer Hürden noch einige Monate. Die ersten Experimente verliefen auch eher frustrierend.

Dann, an besagtem Freitagnachmittag, traf das verspätete, ungekühlte Päckchen in Epsteins Labor ein. Die darin enthaltenen Röhrchen sahen anders als alle zuvor, der flüssige Röhrchen­inhalt war nicht klar, sondern eingetrübt. Wahrscheinlich kontaminiert, vermutete ein Kollege. Unterm Mikroskop sah Epstein allerdings keine Bakterien, sondern frei schwimmende Tumorzellen, die sich vom eigentlichen weichen Tumor gelöst hatten.

Endlose Wartezeit

Man müsste diese Zellen nur irgendwie kultivieren können. Dann würde sich das Virus, so es denn existiert, ebenfalls vermehren und die Wahrscheinlichkeit eines Nachweises würde steigen. Es gab nur einen Haken: niemandem war es bislang gelungen, irgendein Mitglied der menschlichen Lympho­cyten-Familie zu kultivieren. Epstein erinnerte er sich jedoch an eine Begegnung mit einem Mann namens Fisher von der Yale University. Dieser hatte Maus-Lympho­cyten in deren Perito­neal­raum zum Wachsen gebracht.

Epstein und seine damalige Doktorandin Yvonne Barr legten also unter dem Namen EB1 (für Epstein-Barr-1) eine Suspensionskultur der Tumor-Lympho­blasten an – und tatsächlich begannen diese sich zu vermehren. Langsam, ganz langsam, über mehrere Wochen. Die gefühlt unendliche Wartezeit war verbunden mit der Angst, die Kultur doch noch zu verlieren. „Das ist Müll, wirf es doch einfach weg“, hieß es wieder, doch Epstein ließ sich nicht beirren.

Im Gegenteil, er hatte (für damalige Verhältnisse) eine weitere außergewöhnliche Idee: Elektronenmikroskopie. Nur ein klitzekleines, eingeschworenes Forscher-Trüppchen hatte damals überhaupt Zugang zu dieser Technologie. Epstein gehörte zu ihnen, und als sein Team endlich genug Lymphom-Zellen beisammen hatte, schauten sie sich diese unter dem Elektronenmikroskop an. Gleich das erste Bild offenbarte ein Virus, ein Herpesvirus, wie Epstein sofort erkannte. Dann stand er erstmal auf und ging ohne Jacke, nur mit seinem Laborkittel bekleidet, hinaus in den kalten Wintertag – um sich zu beruhigen. Warum aber hatte dieses Virus die Zellkultur nicht ausgemerzt? Das muss etwas ganz Besonderes sein, war sich Epstein sicher.

Die Henles aus Amerika

Nach der geglückten Identifizierung in den Tumorzellen, ging es daran, das Virus morphologisch und biologisch zu charakterisieren. War es ein alter Bekannter oder doch ein völlig neues, noch nie beschriebenes Virus? Um diese Frage zu beantworten, wollte Epstein auf die Expertise britischer Virologen zurückgreifen. Doch seine Landsleute wiesen ihn brüsk ab: „Das ist doch nur Müll!“, „Man kann keine Viren mit einem Elektronenmikroskop identifizieren!“, „Das ist kein Herpesvirus!“ lauteten die Antworten auf Epsteins Kollabo­rations­anfragen. Aber er kannte auch versierte Virologen in den USA. Dort arbeitete am Children’s Hospital in Philadelphia das deutsche Forscher-Ehepaar Werner und Gertrude Henle, die in den 1930er-Jahren aus Deutschland ausgewandert waren.

Die Henles waren sofort begeistert und Epstein schickte ihnen Proben der EB1-Zelllinie. Aber alle Standardtests zur Identifizierung des Virus, die die Henles ausprobierten, lieferten kein Ergebnis. Sie hatten es also wirklich mit etwas Neuem zu tun, etwas Ungewöhnlichem. Etwas, das einen eigenen Namen brauchte. Die Henles schlugen vor, das Virus Epstein-Barr-Virus (EBV) zu nennen.

Dann kam den Virologen wieder der Zufall zu Hilfe, denn im Labor der Henles erkrankte deren TA Elain Hurtkin an Pfeifferschem Drüsenfieber. Ihr Serum diente bei den Experimenten oft als Negativkontrolle, doch nachdem sie an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war, war ihre Serumkontrolle nicht mehr negativ. Sie hatte Antikörper gegen das Virus gebildet. Das Virus steckte also womöglich nicht nur hinter dem Burkitt-Lymphom, sondern auch hinter der sogenannten Kusskrankheit, die mit Fieber und Lymphknotenschwellungen einhergeht. Das überraschte sowohl die Henles als auch Anthony Epstein. Denn das Pfeiffersche Drüsenfieber ist keine seltene Erkrankung, und auch nicht beschränkt auf Zentralafrika.

Tumore, Lupus, Alice im Wunderland

Tatsächlich sind mehr als 90 Prozent aller Erwachsenen mit dem Epstein-Barr-Virus infiziert. Das Virus verharrt jedoch nach der Erstinfektion in einem latenten Zustand und produziert keine Virionen. Ist die Funktion des Immunsystems jedoch beeinträchtigt, kann das Virus reaktiviert werden. So wie bei den Kindern in Uganda, deren Immunsystem wohl gleichzeitig mit einer Malaria-Infektion beschäftigt war. EBV wird heute mit einer Vielzahl von Erkrankungen in Verbindung gebracht: mit Tumoren der Nase und des Kehlkopfes, mit Autoimmunkrankheiten wie Multipler Sklerose und Lupus erythematodes sowie mit dem Alice-im-Wunderland-Syndrom, bei dem Betroffene, oft Kinder, ihre Umwelt (Zeit, Größenverhältnisse, Geräusche) verändert wahrnehmen. Der Originalartikel von Epstein, Barr und Bert Achong erschien am 28. März 1964 (also vor ziemlich genau 60 Jahren) in The Lancet (283(7335): 702-3). Erstaunlich: auch nach all dieser Zeit ist er noch immer nicht öffentlich verfügbar.

Anthony Epstein träumte davon, eines Tages eine EBV-Infektion mit Impfstoffen vereiteln zu können. Alle Versuche dahingehend schlugen jedoch fehl, bis zur Zulassung hat es bislang kein Kandidat geschafft. Vielleicht tut sich aber was, denn mehrere Vakzine befinden sich aktuell in der frühen klinischen Prüfung. Das National Institute of Allergy and Infectious Diseases etwa testet einen Ferritin-Nano­partikel-Impfstoff, der das virale Glycoprotein 350 (gp350) enthält. Dieses nutzt das Virus normalerweise, um B-Zellen über deren CD21-Rezeptor zu entern. Auch der kanadische Pharmaentwickler Moderna (bestens bekannt durch seine COVID-19-Vakzine) hat gleich zwei, wie soll es anders sein, mRNA-Impfstoffe in der Pipeline.

Die Verwirklichung seines Impfstoff-Traums kann Anthony Epstein leider nicht mehr feiern. Er starb am 6. Februar dieses Jahres, mit 102 Jahren. Auch Yvonne Barr, Epsteins Doktorandin, ist bereits verstorben. In den 1960er-Jahren wanderte sie nach Australien aus und unterrichtete dort an privaten Schulen Chemie, Biologie, Physik und Mathe. „Sie hat es nie bereut, die Wissenschaft verlassen zu haben,“ erinnert sich ihre Tochter. Ihr Name und der von Anthony Epstein wird der Wissenschaft aber noch lange erhalten bleiben.

Kathleen Gransalke

Bild: NIAID

Referenzen

- In Conversation: Dr Denis Burkitt and Sir Anthony Epstein, Institutional Repository of Oxford Brookes University, 1991
- Cancer virus discovery helped by delayed flight, BBC, 2014
- Anthony Epstein (1921–2024), discoverer of virus causing cancer in humans, Nature, 2024
- Who was the woman who discovered a virus that exists in 95 % of humans?, El Pais, 2022


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Letzte Änderungen: 28.03.2024