Editorial

„It is an astounding
organism“

(20.03.2023) … schrieb Sydney Brenner 1963 an Ellsworth Dougherty, der ihm kurz zuvor den recht unbekannten Wurm Caeno­rhab­ditis elegans zugesandt hatte.
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Hermaphrodit (unten) und Männchen von C. elegans

Es war ein schwarzer Tag für die Raumfahrt. Am 1. Februar 2003 bricht das Space Shuttle Columbia bei seinem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre auseinander. Alle sieben Besatzungs­mitglieder sterben. Eine Spezies überlebt die Katastrophe jedoch: Caeno­rhabditis elegans. Sicher verwahrt in Aluminium­kanistern hatten die Fadenwürmer zwei Wochen zuvor die Reise ins All angetreten. Beim Auseinander­brechen des Shuttles wurden sie mit einer Geschwindigkeit von bis zu 1.000 km/h Richtung Erde geschleudert. In vier von fünf wiedergefundenen Kanistern hatten die Würmer den Sturzflug jedoch mehr oder weniger schadlos überstanden.

C. elegans war natürlich nicht zufällig an Bord des Raumschiffs. Die NASA-Astronauten sollten ein neues, chemisch definiertes Medium namens CeMM testen, damit Forscher den Fadenwurm auch als Modellsystem für die Weltraum­biologie einsetzen können (BMC Biotechnol, 3:19). Denn auf der Erde, in irdischen Labor-Gefilden, gehört C. elegans neben Drosophila, Arabidopsis und der Maus längst zu den populärsten Modell­organismen der Biologie. Seine Karriere begann in den 1940ern und feierte mit Sydney Brenner in den 1970/80ern den großen Durchbruch, der bis heute anhält.

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Ein Wurm wie ein Aal

Zuerst entdeckt und beschrieben hat den Fadenwurm aber ein Franzose in Algerien. Dorthin verschlug es Emile Maupas 1890 als Kurator der National­bibliothek in Algiers. Eine zoologische Ausbildung hatte er zwar nicht, die Tierwelt seiner neuen Heimat, besonders die sehr kleine, begann ihn aber mehr und mehr zu interessieren. In der Umgebung von Algiers entdeckte er in reichem Humus („dans l’humus gras“) im Mai und November 1897 einen etwa 1 mm langen Wurm, den er nachfolgend Rhabditis elegans nannte. Das Tier ist äußerst agil, beschrieb er es in seiner 1900 veröffentlichten Abhandlung „Modes et formes de reproduction des nématodes“. Seine Bewegungen erinnerten ihn an die eines Aals („semblables à ceux de l'anguille“). In Anerkennung seiner wissen­schaftlichen Leistungen verlieh die Uni Heidelberg Emile Maupas 1903 die Ehrendoktorwürde.

Dann war es eine Zeit lang ruhig um den Nematoden. Bis er in den 1940er/50-Jahren ganz elegant in das Labor des amerika­nischen Biologen Ellsworth C. Dougherty gekrochen kam. Für Untersuchungen an Nematoden hatte man damals noch häufig Spulwürmer wie Ascaris lumbricoides verwendet. Die brauchen, um zu Überleben, aber einen Wirt – wie zum Beispiel den Menschen. Außerdem bergen einige Ascariden Allergene, die beispielsweise während des Häutungs­prozesses freigesetzt werden. Das macht sie nicht unbedingt zu den angenehmsten Versuchs­objekten.

Doppelgänger in Stanford

Frei lebende Nematoden wären daher viel praktischer, dachte sich Dougherty, denn sie brauchen keinen Wirt. Man muss ihnen nur etwas Essbares wie Bakterien vor die Mundöffnung setzen, dann lassen sie sich bequem beobachten und analysieren. Dougherty arbeitete damals mit dem sexuell reprodu­zierenden Rhabditis pellio (heute: Pellioditis pellio). Der Zufall wollte es aber, dass im Jahr 1944 Margaret Briggs Gochnauer auf dem Campus der Uni Stanford einen noch unbekannten frei lebenden Nematoden entdeckte. Und das Beste daran: es handelte sich bei diesem um einen sich selbst befruchtenden Hermaphroditen. Insbesondere für Genetikstudien würde sich dieser weitaus besser eignen als R. pellio und so schwenkte Dougherty zunächst auf Rhabditis briggsae um, wie der neu entdeckte Wurm genannt wurde.

Äußerlich unterscheiden sich die Hermaphroditen von C. briggsae und C. elegans kaum. Diese Ähnlichkeit führte mit dazu, dass sich Letzterer als Modell­organismus durchsetzte, denn obwohl viele Labore damals davon überzeugt waren, sie arbeiten mit C. briggsae, stellte sich später heraus, dass tatsächlich C. elegans in ihren Petrischalen wuselte (J Nematol, 9(3):197-203). Aber zurück zu Dougherty.

Er und seine Mitstreiter wie Hermione Calhoun und Victor Nigon in Frankreich setzten zunächst alles daran, diese frei lebenden Rhabditiden im Labor zu kultivieren. Denn ihnen war bereits 1948 klar: „The free-living nematodes of the sub-order Rhabditina [...] offer, in our estimation, certain very interesting possibilities for the study of basic genetic phenomena – morphological, cytogenetic and physiological“ (Nature, 161(4079):29).

Fast wie heute

Wie sah überhaupt eine Wurm-Kultur Anfang des 20. Jahrhunderts aus? Im Prinzip nicht sehr viel anders als heute. Bis in die 1920er-Jahre dienten Petrischalen oder Uhrengläser als Untersatz, das Medium bestand aus einer flachen Schicht Wasser, Nahrung gab es in Form von verrottenden Fleisch­stückchen. Die Würmer konsumierten natürlich nicht das Fleisch selbst, sondern die darauf lebenden Bakterien. In den 1940ern ersetzten die Nematoden­forscher das flüssige Medium durch festes Agar, was beispielsweise ein Umsetzen der Tiere sehr viel einfacher machte. Zu futtern bekamen die Rhabditiden Saccharomyces cerevisiae und Escherichia coli. Auch heute winden sich die Würmer auf Agarplatten und verspeisen eine spezielle Sorte E. coli (OP50).

Doughertys Hauptaugenmerk lag darauf, ein Medium zu entwickeln, das ganz ohne weitere Organismen (wie E. coli als Nahrungsquelle) auskommt – eine axenische Kultur. Auch schaute er sich gemeinsam mit Nigon die spannende Reproduktion der Würmer an, denn neben den Hermaphroditen gibt es auch ganz selten männliche Tiere. Dabei fiel den beiden bereits 1950 auch eine „Dwarf Mutation“ bei C. briggsae auf (J Hered, 41(4):103-9).

Die beiden waren ihrer Zeit jedoch weit voraus – zu weit – und wurden von Mitstreitern nur müde belächelt. In einem Beitrag für das „WormBook“ erinnert sich Nigon an einen Kommentar von Boris Ephrussi, der ihn 1947 vollen Ernstes fragte: „quand aurez-vous fini de vous amuser avec vos petites bêtes?“ (wann hörst du auf, dich mit deinen kleinen Tieren zu amüsieren?). 1952 verließ Nigon frustriert die Wurm-Forschung. Für Dougherty lief es noch schlimmer (Genetics, 200(4):991-1002). Es fiel ihm zunehmend schwer, an finanzielle Mittel für seine Forschung zu kommen. Sogar eine Einladung in das Labor des späteren Nobelpreis­trägers Joshua Lederberg musste er ablehnen, da er weder Urlaub übrig hatte, noch genug Geld. „One of my grants pays me indirectly for one day a week, but the rest of the time I spend in the lab is on my own“, schrieb er 1955 an Lederberg. Um überhaupt an Geld zu kommen, arbeitete er als Arzt in einer Klinik. An dieser deprimierenden Situation ist Ellsworth Dougherty letztlich zerbrochen. Sein angesammeltes Wissen über Caeno­rhabditiden konnte er dennoch weitergeben – und zwar an Sydney Brenner.

Photogener Wurm mit Mutation

Dieser war auf der Suche nach einem Tier, das ganz leicht im Labor gehalten werden kann, weniger Neuronen besitzt als eine Fruchtfliege und klein genug ist, um es in ein Transmissions-Elektronenmikroskop zu stecken. All das traf auf Caeno­rhabtidis zu. Allerdings hatte Brenner zunächst ein Auge speziell auf C. briggsae geworfen. Ein Besuch in Doughertys Labor in Berkeley stimmt ihn jedoch um. C. elegans war nicht nur „photogener“, wie Brenner später einmal scherzhaft bemerkte. Die beiden Wurmspezies, obwohl äußerlich kaum auseinander­zuhalten, unterscheiden sich sehr wohl in ihren Wachstumsraten; außerdem gräbt sich C. elegans nicht in das Agarmedium, was das Mikroskopieren deutlich erleichtert. Letztere vorteilhafte Verhaltens­weise geht wohl auf eine Mutation (im npr-1-Gen) zurück, die sich der noch heute am häufigsten verwendete C.-elegans-Stamm N2 wahrscheinlich in Doughertys Labor zugezogen hat (Trends Genet, 31(5): 224–31).

Im Oktober 1963 schließlich schreibt Brenner an Dougherty: „I am [...] writing to ask you for a culture of Caeno­rhabditis elegans, Bristol strain. […] Reprints of your papers would also be most acceptable“. Dougherty antwortet nur wenige Tage später und macht gleichzeitig ein axenische Kultur von C. elegans für die Luftpost fertig, inklusive „best wishes for success in your work“. Am 9. Dezember schreibt Brenner zurück: „Thank you very much indeed for the culture of Caeno­rhabditis elegans. It arrived in good shape. […] It is an astounding organism“.

Vom Witz zum Vorzeige-Modell

Fast zehn Jahre – bis 1974 – sollten jedoch vergehen, bis Brenner die ersten Ergebnisse mit seinem erstaunlichen Organismus veröffentlichen konnte: „The genetics of Caenorhabditis elegans“ (Genetics, 77(1):71-94). Für die Publikation hatte er mit Ethyl­methan­sulfonat (EMS) Punkt­mutationen erzeugt und die jeweiligen Mutanten, mehrere hundert, analysiert. Eine Fleißarbeit!

Aber auch Brenner hatte es mit C. elegans anfangs nicht leicht: „Most people viewed C. elegans almost as a joke organism and, adding insult to insult, often confused it with the flatworm. Jim Watson, in particular, said he would not give me a penny for this work,“ erinnert sich Brenner in einem Essay aus dem Jahr 2009 (Genetics, 182(2):413-5). Mit neuen Techniken wie dem Klonen und Sequenzieren avancierte der Fadenwurm dann aber in Windesweile vom Witz zum Vorzeige-Modellorganismus.

Und plötzlich wollten alle mit ihm arbeiten, vom Genetiker zum Alterns­forscher und Neurobiologen. Ein kurzer Überblick: Das erste Myosin-Gen klonierten und sequenzierten Brenner und Kollgen bereits 1977. Später kamen die ersten Gene (ced-3 und -4), die die Apoptose kontrollieren, hinzu (dafür gab es 2002 den Medizin­nobelpreis). Außerdem gelang es, die Abstammung jeder einzelnen Zelle sowie die Verkabelung jedes einzelnen Neurons zu kartieren. Die ersten mikro-RNAs entdeckten Forscher in C. elegans, ganz zu schweigen von der RNA-Interferenz (Medizin­nobelpreis 2006). Mit Optogenetik konnten Georg Nagel et al. 2005 sogar das Verhalten der Würmer manipulieren und auch die Epigenetiker finden Gefallen an C. elegans. So beschrieben beispielsweise Kölner Forscher um Björn Schumacher Ende letzten Jahres, dass und wie Strahlungsschäden an der väterlichen DNA an den Nachwuchs weitergegeben werden (Nature, 613:365-74).

Seit der Columbia-Katastrophe von 2003 war Caeno­rhabditis elegans übrigens auch mehrfach wieder im All, an Bord des chinesischen Raumschiffs Shenzhou und noch häufiger auf der International Space Station. Auf seiner aktuellsten All-Mission hat der Wurm ein extra für den Weltraum konzipiertes Mikrofluidik-Gerät getestet (NPJ Microgravity, 8:50). Das, wie es im Paper heißt, die „Bühne bereitet für zukünftige ‚space biology investigations‘ auf der ISS.“

Kathleen Gransalke

Bild: University of Rochester Medical Center/NSF.gov


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Letzte Änderungen: 20.03.2023