Editorial

Der moralische Status
von Organoiden

(02.05.2023) Organoide erzeugen Menschen-ähn­lichere Modellsysteme. Am Horizont tauchen aber bereits ethische Fragen im Umgang mit ihnen auf.
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Unsterbliche Zelllinien waren über Jahrzehnte das Mittel der Wahl, um in vitro zu erforschen, wie menschliche Zellen auf molekulare Signale, Gifte oder Medikamente reagieren. Dass man damit weit weg ist von einem echten Gewebe oder Organ, leuchtet ein. Erst recht, wenn Zelllinien über Generationen in Laboren weitergereicht werden und Mutationen ansammeln. Hinzu kommt, dass Linien wie HeLa-Zellen von Krebszellen abstammen, die sich schon vor der Kultur aus dem konstruktiven Zusammen­wirken im Organismus verabschiedet hatten.

Inzwischen werden immer mehr dreidimen­sionale Kulturmodelle etabliert. Besonders induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) bieten Forschenden weitreichende Möglichkeiten: Der Startpunkt ist keine uralte Zelllinie, sondern eine frisch gewonnene Körperzelle, die in einen früheren pluripotenten Zustand zurück­programmiert wird. Der Experimentator bettet die Zellen in spezielle Medien ein, etwa das aus Sarkomzellen stammende, eine extrazelluläre Matrix nachbildende Matrigel, und steuert das weitere Ausdiffe­renzieren. Mit Morphogenen wie BMP4, Signalen des WNT-Pathways oder Activin gibt er den rück­programmierten Zellen eine Entwicklungs­richtung vor und erzeugt aus ihnen dreidimen­sionale Verbände, die an Organe im Miniatur­format erinnern – natürlich mit einigen Einschränkungen, weshalb man etwas bescheidener von Organoiden spricht.

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Bislang auf der sicheren Seite

Im Idealfall kann man hierdurch Tierversuche einsparen und stattdessen mit dreidimensional arrangierten Kultur­modellen arbeiten, die dem menschlichen Organismus viel näher kommen. Bei Studien an Organoiden muss kein Lebewesen leiden und auch ethisch ist man bislang auf der sicheren Seite – schließlich verwendet man als Ausgangs­material lediglich Körperzellen, und die Spender geben aktiv ihre Einwilligung für die Experimente. Doch welches Entwicklungs­potenzial steckt in den auf diesem Weg erzeugten Organoiden?

In einem Gespräch mit Laborjournal wies der Embryologe Michele Boiani unlängst darauf hin, dass man mit iPS-Zellen faktisch das Verbot des Klonens von Menschen umgehen könne. Schon jetzt lassen sich aus menschlichen Körperzellen Embryoide erzeugen (Nature, 591(7851): 627-32). Zugegeben, das erreichte Stadium entspricht lediglich dem einer Blastocyste. Würde man allerdings die gleichen Gebilde nicht aus iPS-Zellen herstellen, sondern aus Stammzellen eines sehr frühen menschlichen Embryos isolieren, würde man sich laut Embryonen­schutzgesetz in Deutschland strafbar machen. Hier mag man fragen: Warum hat schon eine einzelne menschliche Zygote einen höheren ethischen Status als der viel weiter ausdifferenzierte Blastocysten-ähnliche Embryoid?

Wenn wir uns als Gesellschaft darauf einigen, dass aktuelle ethische Grundsätze sinnvoll und richtig sind, sollten wir auch mit offenen Augen die Fortschritte rund um Organoide verfolgen. Dabei gilt es, kritisch zu hinterfragen, ob wir nicht qualitativ gleiche Dinge mit zweierlei Maß messen. Die Leopoldina hat ihr Augenmerk in diesem Zusammen­hang besonders auf Hirn­organoide gerichtet, die aus menschlichen iPS-Zellen erzeugt werden. In ihrer Stellungnahme zu Hirnorganoiden vom Oktober 2022 diskutieren die Autorinnen und Autoren ethische Aspekte rund um die neuen Technologien und geben einen Ausblick auf künftige Heraus­forderungen. Unter den Mitwirkenden des Papiers sind zum Beispiel die Stammzell­forscherin Magdalena Götz aus München oder der Organoid-Experte Jürgen Knoblich aus Wien.

Leidensfähigkeit und Würde

Die Autoren gehen auf zwei Punkte ein, die auch in der Vergangenheit als ethische Wegweiser maßgeblich waren: Zum einen ist die Frage nach der Leidens­fähigkeit zentral. Egal um welche Spezies es sich handelt: Keinem Lebewesen soll aus unvernünftigen Gründen Leid zugefügt werden. Deshalb sind Tierversuche insbesondere an Säugetieren hierzulande streng reguliert und müssen von Ethik­kommissionen zuvor geprüft werden.

Unabhängig von der Leidens­fähigkeit schreiben wir dem Menschen einen moralischen Status „um seiner selbst willen“ zu. Um es überspitzt zu formulieren: Man könnte sich vorstellen, dass ein Mensch nach einer schweren Hirnschädigung zwar noch basale Vitalfunktionen aufrechterhält, er aber nicht mehr zur Verarbeitung von Sinnesreizen fähig ist und auch kein Bewusstsein mehr erlangen kann. Obwohl dieser Mensch nicht leidensfähig ist, dürfte man seinen Körper nicht für beliebige Experimente freigeben. Selbst nach dem Tode wirkt die individuelle Menschenwürde weiter, sodass selbst der Leichnam einem besonderen Schutz unterliegt – einfach nur deshalb, weil er menschlich ist.

Die Frage nach der Leidens­fähigkeit ist für die aktuell gängigen Organoid-Modelle schnell beantwortet: Zwar lassen sich neuro­physiologische Aktivitäten messen, es gibt aber keinerlei Grund zur Annahme, dass auch nur annähernd eine Art von Empfindungs­fähigkeit vorhanden sein könnte, geschweige denn ein Bewusstsein. Für die mediale Wissenschafts­kommunikation sehen die Autoren daher auch den Begriff der „Minigehirne“ kritisch, weil dieser suggeriert, man könne die verkleinerte Version eines menschlichen Gehirns im Labor wachsen lassen.

Keine Blaupause des Originals

Korrekt ist: Eine zum Hirnorganoid heranwachsende 3D-Kultur differenziert sich zu verschiedenen Zelltypen, die man aus dem menschlichen Gehirn kennt. Man findet diverse Arten von Gliazellen und myelinisierte Axone. Die Fähigkeit zur Selbst­organisation reicht so weit, dass selbst eine Strukturierung des Nerven­gewebes erfolgt, die an den geschichteten Aufbau der menschlichen Hirnrinde erinnert. Die neuronalen Aggregate durchlaufen also ein Stück weit die frühen Entwicklungs­prozesse eines embryonalen menschlichen Gehirns. Dennoch sollte man sich Hirnorganoide nicht als original­getreue Blaupause der Embryonal­entwicklung vorstellen, denn einzelne Zellpopulationen ähneln eher dem Zustand nach der Geburt. Nicht zuletzt deshalb kommen sie in Frage, um auch Vorgänge rund um neurologische Erkrankungen besser erforschen zu können. Aber es findet bislang kein original­getreuer, chronologischer Ablauf der Embryonal­entwicklung statt.

„Zudem verlieren Hirnorganoide im Laufe ihrer Entwicklung nach Aussehen und Aufbau jegliche Ähnlichkeit mit einem Gehirn“, schreiben die Autoren der Leopoldina-Stellungnahme. Die Zellaggregate eines Organoids befinden sich nicht in einer embryonalen Umgebung, in der sich ein gesamter Organismus heranbildet. Vor allem bilden sich in den Organoiden keine Blutgefäße, sodass die Versorgung mit Nährstoffen und Sauerstoff ab einem bestimmten Entwicklungsgrad nicht mehr gegeben ist. „Insofern führt der Begriff des Minigehirns zu falschen Vorstellungen und Erwartungen“, bemängeln die Autoren in der Stellungnahme der Leopoldina.

Fundamentaler Unterschied

Die Nervennetze stehen in keinerlei Verbindung mit Sinnes­sensoren und können auch kein Verhalten generieren – das unterscheidet die meisten Hirnorganoide fundamental von den einfachsten Gehirnen im Tierreich. Hierzu resümiert das Autorenteam: „Um das Vorhandensein eines bewussten Zustandes zu diagnostizieren, bedarf es der Analyse von Verhaltens­leistungen und im Idealfall der Berichte des betreffenden Organismus über seinen inneren Zustand. Solange Hirnorganoide in sich geschlossene Systeme darstellen, die nicht über Sinnesorgane und Effektoren mit der Umwelt kommunizieren können, stehen solche verhaltens­basierte Diagnose­methoden nicht zur Verfügung.“

Damit ist aber auch ein Ausblick gegeben, ab wann bei der Arbeit mit Hirnorganoiden eine zumindest prinzipiell mögliche Leidens­fähigkeit in Erwägung gezogen werden muss: Dann nämlich, wenn die Neuronen nicht bloß spontan feuern, sondern tatsächlich sinnvolle Informationen verrechnen und dabei in irgendeiner Form mit ihrer Umwelt in Kontakt treten. In der Tat kann man menschlichen Organoiden bereits primitive Computerspiele beibringen, und sicher sind das erst die Anfänge des Machbaren. Wer nicht überzeugt ist von einem Körper-Geist-Dualismus, sondern Bewusstsein und Leidens­fähigkeit stattdessen als emergente Phänomene neuronaler Aktivität sieht, der wird auch anerkennen müssen, dass Korrelate von Bewusstsein zumindest im Prinzip durch eine Verschaltung von Neuronen in vitro abgebildet werden können.

Auch hier sollte man aber die Dimensionen nicht aus den Augen verlieren: Im Papier der Leopoldina ist von 86 Milliarden Neuronen im erwachsenen menschlichen Gehirn die Rede. Die Zahl der Synapsen, den eigentlichen „Verrechnungs­einheiten“, dürfte nochmal um den Faktor Tausend höher sein, auch wenn man das vermutlich niemals nachzählen kann. Der Toxikologe, Pharmakologe und Organoid-Forscher Thomas Hartung von der Johns Hopkins University in Baltimore und der Universität Konstanz erklärt hierzu: „Unsere Organoide kommen gerade mal auf 50.000 bis 100.000 Zellen. Das ist das, was eine Fliege an Nervenzellen hat.“ Mögliche ethische Grenzen kann sich Hartung etwa vorstellen, wenn man Organoide gezielt mit Schmerz­rezeptoren koppelt und in ihnen Zustände induziert, die man dann auch als ein neuronales Korrelat für Schmerz oder Leiden interpretieren könnte. „Vielleicht ist das etwas, das man unterlassen sollte“, meint Hartung, gibt aber zugleich auch zu bedenken: „Was ist aber, wenn ich genau damit ein wichtiges Modell etabliere, um chronischen Schmerz zu erforschen? Das alles sind Diskussionen, die wir künftig führen müssen!“

Die Lebensdauer von Hirnorganoiden in vitro ist begrenzt, sie entwickeln sich ab einem bestimmten Punkt nicht Gehirn-ähnlicher sondern sterben ab. Transplantiert man solche Organoide aber in ein Mäusehirn, bilden sich Blutgefäße aus und die Strukturen bleiben ein halbes Jahr oder länger erhalten. Bei diesen chimären Organismen aus Empfänger­tieren und menschlichen Spenderzellen stellt sich eine weitere ethische Frage: Wie sehr bleibt eine Maus noch eine Maus? Wird ein Tier Menschen-ähnlicher, wenn man ihm menschliche Neuronen-Netzwerke ins Gehirn implantiert? Man spricht dabei von einer „Vermensch­lichung“ der Empfänger­tiere. Hierzu heißt es im Leopoldina-Text: „Die zum Zweck der Hirnorganoid-Vaskula­risierung vorgenommenen Verpflanzungs­experimente jedenfalls sind – nach gegenwärtigem Kenntnisstand – gänzlich frei von Vermensch­lichungs­potenzialen für die Empfänger­tiere.“

Stärkere Organoid-Integration bei Fötus

Anders sieht es aus, wenn menschliche Hirnorganoide bereits in einen Tierfötus eingesetzt werden. „Dies könnte zu einer deutlich stärkeren Integration der menschlichen Zellen in funktionelle Schaltkreise des Tiergehirns führen“, räumen die Autoren ein. Auch die Frage, ob menschliche Organoide in Gehirnen größerer und langlebiger Säugetiere wie Schweine oder Affen größer werden und sich komplexer ausdifferenzieren, lasse sich derzeit weder verneinen noch bejahen.

Aktuell sieht die Leopoldina keinen Handlungs­bedarf des Gesetzgebers, da die Erzeugung von Hirnorganoiden aus menschlichen Zellen hinreichend reguliert sei. Für das Transplantieren in Versuchstiere sei ohnehin das Tierschutz­gesetz einschlägig und die Forscher müssen Ethik­kommissionen einbinden. Allerdings weisen die Autoren auch auf die Dynamik des Forschungs­feldes hin. „[Es] sollte zumindest hypothetisch darüber nachgedacht werden, welche ethischen Konsequenzen es hätte, wenn Hirnorganoide in ferner Zukunft ein mentales Innenleben hätten.“ Hier weisen die Autoren auf verschiedene Ansichten hin: „Während die einen mit der Entstehung auch nur minimalen Bewusstseins eine rote Linie ziehen, die jede weitere Forschung mit solchen hypothetischen Gebilden verbieten würde, vertreten andere eine sehr vorsichtige, aber weniger restriktive Position: Sie postulieren eine gegebenenfalls bestehende Pflicht zur Schmerzstillung, aber kein grund­sätzliches Forschungsverbot.“

Wichtige Kommunikation

Was den ethischen Status „um seiner selbst willen“ betrifft, wird man die Debatte nicht allein der wissenschaftlichen Community überlassen können. Vielleicht könnte man einem aus menschlichen iPS-Zellen erzeugten Neuronen-Netzwerk einen ethischen Status per se zusprechen, so wie auch Embryonen unabhängig von ihrer Leidens­fähigkeit geschützt sind. Andererseits lässt sich mithilfe von Organoiden ganz objektiv Leid vermeiden. Sei es durch weniger Tierversuche, den Erkenntnis­gewinn bei der Erforschung von Krankheiten, dem Screening nach Wirkstoffen – oder künftig durch Organoide einzelner Patienten, die heran­gezogen werden, um therapeutische Entscheidungen zu treffen und zum Beispiel das für den einzelnen Patienten wirksamste Medikament zu ermitteln.

Die emotionalen Debatten rund um die Gentechnik sollten uns gelehrt haben, wie wichtig die Kommunikation wissen­schaftlicher Erkenntnisse ist. Gesellschaftliche Regeln und Gesetze entstehen nicht allein durch wissenschaftliche Expertise – der ethische und moralische Kompass einer Gesellschaft hängt von vielen unterschiedlichen Dynamiken ab. Umso wichtiger, dass nicht nur im Elfenbein­turm der Wissenschaft über Organoide gesprochen wird.

Mario Rembold

Bild: David Baillot

Dieser Artikel erschien zuerst in Laborjournal 4/2023.


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Letzte Änderungen: 02.05.2023