Editorial

Karriereknick durch Corona

(18.09.2023) Die COVID-19-Pandemie hat forschende Frauen stärker behindert als Männer. Zu dieser Einschätzung kommt eine Sachverständigengruppe der EU.
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Trotz vieler Verbesserungen in den letzten Jahren ist in der akademischen Forschung in Deutschland noch längst keine Chancengleichheit der Geschlechter erreicht. Dafür gibt es viele Gründe, von denen der „biologische“ wohl der Wichtigste ist: Frauen haben ein bestimmtes Zeitfenster, um Kinder zur Welt zu bringen, und dieses Zeitfenster überlappt mit dem, in das die für eine leitende Position entscheidenden Karriereschritte fallen.

In den letzten Jahren hat die COVID-19-Pandemie das deutsche Forschungssystem, das stark auf Kooperationen und die Mobilität der Beschäftigten setzt, vor neue Herausforderungen gestellt. Durch die Lockdowns mussten viele Forschungs­projekte unterbrochen werden, wissenschaftlicher Austausch durch Konferenzen und Auslands­aufenthalte war nicht mehr oder nur eingeschränkt möglich. Besonders schwer unter diesen Problemen gelitten haben wohl – wie leider oft – diejenigen, die es sowieso schon schwer haben: junge Forscher und Forscherinnen, die am Anfang ihrer Karriere und oft durch befristete Verträge besonders unter Zeitdruck stehen, die von positiven Forschungs­ergebnissen abhängig sind und noch kein tragfähiges Unterstützernetz aufgebaut haben. Eine Sach­verständigen­gruppe der Europäischen Union hat sich angeschaut, wie die Pandemie-bedingten Einschränkungen die Karrierewege von deutschen Forschern beeinflusst haben und ob dabei ein Geschlechter­unterschied zu beobachten ist. Die letzte Frage beantwortet der kürzlich veröffentlichte, 120 Seiten starke Bericht „Covid 19 impact on gender equality in research & innovation“ mit einem klaren Ja.

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Einschränkungen und Erfahrungen

Die Sachverständigengruppe, die die Arbeit im März 2022 aufgenommen hatte, bestand aus 12 Mitgliedern aus den Ländern Deutschland, Dänemark, Italien, Finnland, Portugal, Israel, Spanien, Ungarn, Belgien und Großbritannien. Sie stand unter der Leitung von Sabine Oertelt-Prigione, die an der Medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld eine Professur für Geschlechter­sensible Medizin innehat und außerdem am Radboud University Medical Center forscht.

Der Abschlussbericht gliedert sich in vier Hauptteile: Im ersten Teil steht die Auswirkung der Pandemie auf die akademische Produktivität und die Arbeitsabläufe sowie die Reaktionen der Institute auf die Einschränkungen im Vordergrund. In Teil 2 beschäftigen sich die Autoren gezielt mit der Situation von Nachwuchs­forschern, die besonders unter den Pandemie-bedingten Problemen gelitten haben. Der dritte Teil verlässt den akademischen Bereich und beinhaltet die Auswirkungen von Pandemie und Homeoffice auf Kinderbetreuung und Pflege­verantwortung von Forschern sowie auf deren Work-Life-Balance. Im vierten Teil fassen die Autoren Erfahrungen zusammen, die sonst eher im Hintergrund bleiben, weil sie nur wenige Menschen betreffen – etwa die Situation von Forschern mit Behinderungen oder Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit. „Unser Ziel war es, in unserem Bericht den Status quo aufzuzeigen und daraus Empfehlungen abzuleiten, wie es zukünftig besser gemacht werden kann“, erläutert Oertelt-Prigione in einer Pressemitteilung der Universität Bielefeld. Die abschließenden Empfehlungen richten sich an politische Entscheidungsträger, Forschungs­förder­organisationen und Forschungs­einrichtungen.

Junge Frauen als Pandemie-Verlierer

Die wichtigste Erkenntnis der Gruppe war wohl, dass Frauen stärken unter den Auswirkungen der Pandemie gelitten haben bzw. noch immer leiden als Männer. Oertelt-Prigione bringt es auf den Punkt: „Gerade Frauen, noch dazu mit Care-Verantwortung für Kinder oder Angehörige, mussten ihre beruflichen Ziele oft zurückstecken.“ Unter den Frauen besonders betroffen waren erwartungsgemäß junge Forscherinnen, die noch kein etabliertes Netzwerk hatten: „Sie waren von der eingeschränkten Mobilität und dem Ausfall von netzwerk­fördernden Veranstaltungen wie Tagungen und Konferenzen ungleich stärker betroffen als ihre etablierten Kolleg:innen.“ Letzteres trifft vermutlich auch auf männliche Forschende zu, doch sind Männer oft generell durch eine andere „Netzwerk-Kultur“ besser vernetzt als Frauen und Homeschooling beziehungsweise geschlossene Kindertages­stätten werden Forscherinnen in vielen Fällen stärker ans Haus gebunden haben als ihre männlichen Kollegen.

Die Pandemie ist (vorerst) vorbei, doch die Erkenntnisse aus dem Policy Report sollen auch bei zukünftigen Krisen helfen, wie Oertelt-Prigione erklärt: „Das Wissenschafts­system wird immer wieder mit Stressoren konfrontiert. Deshalb ist es wichtig, dass sich Institutionen damit auseinandersetzen, wie sie sich Ungleichheiten stellen können und wie für die Zukunft Instrumente für einen Ausgleich entwickelt werden können.“

Larissa Tetsch

Bild: Pixabay/rschaubhut (bearb.)


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Letzte Änderungen: 18.09.2023