Editorial

„So ein Gesetz gibt es sonst nirgendwo“

(29.02.2024) Die Zahl neuer Patente für Krebstherapien ist in letzter Zeit stark gestiegen, aber nicht aus jedem Patent wird ein Medikament. Patentanwalt Ulrich Storz weiß warum.
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Trotz großer medizinischer Fortschritte bleibt es eine Angstdiagnose: Krebs. Dabei sind die Chancen eine Krebserkrankung zu überleben, heute wahrscheinlich besser als jemals zuvor. Eine aktuelle Studie des Teams um den italienischen Biostatistiker Matteo Malvezzi schätzt, dass seit 1988 etwa fünf Millionen krebsbedingte Todesfälle verhindert wurden – davon knapp 370.000 allein im Jahr 2022 (Ann Oncol, 33: 330–9).

Ein Grund dafür sind die massiven Entwicklungen bei Krebstherapien und Krebsdiagnostika der letzten Dekaden. Diese basieren meist auf Erfindungen, die nicht selten zum Patent angemeldeten werden. Eine kürzlich vom Europäischen Patentamt (EPA) veröffentliche Studie gibt einen detaillierten Einblick in die Patentlandschaft der Krebstherapien und -diagnostika seit 2002. Eine der Haupterkenntnisse: Die Anzahl von Patentanmeldungen auf krebsbezogene Diagnose- oder Therapieverfahren hat seit 2015 stark zugenommen. Die Studie zeigt einen Anstieg von etwa 70 Prozent zwischen 2015 und 2022 – also etwa 10 Prozent pro Jahr.

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Vorauseilende Patentwelt

Zwar wurden in den letzten Jahren kontinuierlich neue oder verbesserte Krebstherapien konzipiert, ein vergleichbarer Anstieg an zugelassenen Medikamenten blieb aber bisher aus. Kein Wunder, sagt Ulrich Storz. Er ist Patentanwalt bei der Düsseldorfer Kanzlei Michalski, Hüttermann und Partner und Experte für biotechnologische Patente. „Die Patentlandschaft eilt der realen Welt voraus. Wir prüfen hier teilweise Konzepte für Therapeutika und diagnostische Verfahren, die in der Regel erst Jahre später auf den Markt kommen.“

Die Ansätze müssten nach Einreichung der Patentanmeldung zunächst den Reality Check bestehen – eine Hürde, an der viele Therapie-Ideen scheitern. Auch sieht der promovierte Biologe einen weiteren Trend, der dafür sorgt, dass patentierte Wirkstoffe nicht zwangsläufig zum nächsten Blockbuster werden: „Die Hersteller setzen vermehrt auf individualisierte Therapien. In der klassischen Krebstherapie, die eher unkontrolliert die Zellteilung unterbindet, gibt es wenig Neues.“ Diese Bewegung hin zur individualisierten Medizin spricht auch die EPA-Studie an. Dort heißt es: „Der Trend geht eindeutig in Richtung zielgerichteter Therapien und Immuntherapien, da sie bequemer, wirksamer und nebenwirkungsärmer sind als die herkömmliche Chemotherapie.“

Der Name – bei Tumoren leider noch Programm

Damit adressieren die neuartigen Therapien eine wichtige Problematik in der Krebstherapie. Seit Jahrzehnten werden Tumore nach dem Ort im Körper benannt, an dem sie gefunden wurden und auch entsprechend behandelt. Teilweise mit gravierenden Folgen. Ein Beispiel ist die Wirkstoffgruppe der PARP-Inhibitoren. Deren Wirksamkeit gegen Tumore mit den für Brustkrebs typischen Mutationen in den Tumorsuppressor-Genen BRCA1/2 zeigten Bryant et al. bereits 2005 (Nature, 434: 913–7). Schon bald wurde klar, dass diese Mutationen auch bei Tumoren anderer Herkunftsorgane eine Rolle spielen, zum Beispiel den Eierstöcken.

So begann 2009 eine Studie zum Wirkstoff Olaparib, die dessen Wirksamkeit bei Eierstockkrebs zeigte, 2014 erfolgte die Zulassung – jedoch nur für Tumore des Eierstocks. Obwohl bekannt war, dass in der Brust ebenfalls häufig BRCA1/2-negative Wucherungen auftreten, dauerte es weitere vier Jahre, bis Olaparib auch bei dieser Indikation eingesetzt werden durfte. Formal handelt es sich nämlich bei Eierstockkrebs und Brustkrebs um verschiedene Erkrankungen und damit um verschiedene Indikationen.

Durch diesen Zulassungsverzug starben zwischen 2014 und 2018 etwa 100.000 Patientinnen, die eventuell von einer Olaparib-Behandlung profitiert hätten. Auch gegen Pankreas- und Prostatatumore ist der Wirkstoff aktiv – hier dauerte die Zulassung bis 2019 beziehungsweise 2020. Von der Erstzulassung 2014 bis 2020 starben etwa 200.000 Patienten mit Pankreas- oder Prostatakrebs, denen Olaparib möglicherweise geholfen hätte (siehe dazu „Forget lung, breast or prostate cancer: why tumour naming needs to change“ in Nature, 626, 26-29).

Kurioser Spitzenreiter in Europa

So ist es erfreulich, dass unter den über 13.000 internationalen Patentfamilien (IPF) aus dem Jahr 2021 immer mehr Ideen zu finden sind, die sich gezielt gegen die genetische Ausstattung der Tumore richten. Als internationale Patentfamilien bezeichnet man dabei alle Anmeldungen zu einer Erfindung, die in unterschiedlichen Ländern getätigt wurden. Der Löwenanteil der IPFs (etwa 70 Prozent) entfiel dabei auf die Krebstherapie. Die verbleibenden Patentfamilien kommen hauptsächlich aus der Krebsdiagnostik.

Geographisch gesehen sind die USA immer noch der größte Urheber der IPFs. Nahezu 50 Prozent der Patentfamilien von 2002 bis 2021 wurden von US-amerikanischen Bewerbern eingereicht. Innerhalb Europas kann Deutschland seine Spitzenposition mit über 9.300 IPFs behaupten – zum Teil aus einem kuriosen Grund, wie Storz erklärt: „Die Innovationskraft der deutschen Universitäten und Start-ups ist zwar sehr hoch, doch die große Anzahl an Patenten wird auch durch ein Gesetz aus der Zeit des Nationalsozialismus begünstigt: das Arbeitnehmererfindergesetz.“ Da im deutschen Patentgesetz von 1936 der Rechtsübergang vom angestellten Erfinder an den Arbeitgeber nicht geregelt war, trat 1942 die sogenannte Göring-Speer-Verordnung in Kraft, mit der Erfindungen von Arbeitnehmern insbesondere für die Rüstung „tatkräftig gefördert, ausgewertet und geschützt“ werden sollten.

Auch heute noch sind während der Arbeitszeit gemachte Erfindungen dem Arbeitgeber anzuzeigen. Dieser muss dann innerhalb von vier Monaten entscheiden, ob er die Erfindung verwerten will oder nicht. „Das ist nicht viel Zeit“, gibt Storz zu bedenken. „Beansprucht der Arbeitgeber die Erfindung nicht, gehört sie fortan komplett dem Erfinder. Viele Arbeitgeber entschließen sich daher pro forma zur Verwertung und sind dann aber verpflichtet, die Erfindung zum Patent anzumelden. So ein Gesetz gibt es sonst nirgendwo.“

Globale Arbeitsteilung

Dessen ungeachtet fehle es in Deutschland aber an privaten Kapitalgebern. „Ich vertrete viele Start-ups und für die ist es in Deutschland immer schwer, Kapital zu erhalten. Das funktioniert in anderen Ländern besser. So bleiben viele Ideen eben Ideen“, sagt Storz.

Diese Einschätzung ist besonders interessant, da der EPA-Report zeigt, dass die Anzahl an Patentfamilien bei Krebstherapien, die von privatwirtschaftlichen Unternehmen beantragt wurde, stark rückläufig ist. Zwischen 2007 und 2021 fiel sie um etwa 40 Prozent. Im gleichen Zeitraum hat sich die Anzahl der von Universitäten, Krankenhäusern und öffentlichen Forschungseinrichtungen beantragten IPFs verdoppelt. „Diesen Trend beobachten wir schon länger“, erläutert der Patentanwalt. „Es gibt da eine Art globale Arbeitsteilung. Universitäten und Start-ups liefern die Innovationen, die großen Player kümmern sich dann um den Rest.“

So wie der rheinland-pfälzische Pharmakonzern Boehringer Ingelheim. Erst 2020 kaufte das Unternehmen die Basler Biotech-Firma NBE für satte 1,18 Milliarden Euro – der zweitgrößte Zukauf der Firmengeschichte  – nur um dann Ende 2023 noch einmal knapp eine halbe Milliarde Euro für das ebenfalls aus Basel stammende Start-up T3 Pharmaceuticals hinzublättern. Mit NBE kaufte sich Boehringer deren Antikörper-Wirkstoffkonjugat, das sich gegen die Receptor-tyrosine-kinase-like-orphan-Receptor-1 (ROR1)-Familie richtet und in diversen festen Tumoren vorkommt. T3 Pharmaceuticals werkelt derzeit daran, Wirkstoffe mithilfe bakterieller Sekretionssysteme gezielt in Krebszellen einzuschleusen.

Fakten schaffen mit Geld

Die EPA-Studie listet das zweitgrößte deutsche Pharmaunternehmen aus Ingelheim jedoch nicht unter den Top-10-Privatunternehmen mit den meisten Patentfamilien. Die beiden deutschen Vertreter in diesem illustren Kreis sind Bayer und Siemens, Letzterer ist jedoch eher in der Krebsdiagnostik aktiv. Die Patentierungsaktivitäten von Bayer in der Onkologie-Sparte sind allerdings auch stark rückläufig. Waren es 2005 noch über 150 IPFs, pegelten sich die Zahlen ab 2012 bei etwa 40 bis 50 Patentfamilien pro Jahr ein. Damit liegt Bayer im Gesamtranking noch auf Platz 6. Trotz der abnehmenden Zahl der Patentanmeldungen hat der Leverkusener Pharmariese derzeit zehn krebsassoziierte Wirkstoffe in der Pipeline.

Angeführt wird die Liste von den Schweizer Pharmariesen Roche und Novartis. Der nicht ganz unbescholtene Basler Konzern Novartis bekam Ende 2022 Besuch von der Schweizer Wettbewerbsbehörde. Der Grund: ein vermutlich unzulässiges Sperrpatent für das Psoriasis-Medikament Cosentyx (wir berichteten: „Goliath gegen die Konkurrenz“). Kein Einzelfall: „In kaum einem anderen Bereich ist die Patentierung von Erfindungen so eng mit dem Marktzugang gekoppelt. Da sind die großen Unternehmen natürlich im Vorteil und es werden teilweise mit viel Geld Fakten geschaffen“, so Storz.

Insgesamt zeichnet sich jedoch eine hoffnungsvolle Entwicklung ab und die Mortalitätsraten der meisten Krebsarten sind entweder rückläufig oder stagnieren zumindest. All das, dank der kreativen Ideen kluger Forscherinnen und Forscher. Es bleibt also abzuwarten, von welchen der neuartigen Ansätze wir bald profitieren können.

Tobias Ludwig

Bild: AdobeStock/maylim


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Letzte Änderungen: 29.02.2024